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Lösungen gemeinsam zu ersinnen, schafft ein Wir-Gefühl
Durchgängig herausgefordert während der Pandemie waren diejenigen, die alleinstehend sind. © iStock/filadendron

Gesundheitsschutz : Lösungen gemeinsam zu ersinnen, schafft ein Wir-Gefühl

Was tun, damit Beschäftigte Krisenzeiten psychisch möglichst gut bewältigen? Esin Taşkan liefert Anregungen.
Esin Taşkan ist Leiterin des Sachgebiets Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt bei der DGUV © Carola Thiede

Die Corona-Pandemie hat Beschäftigte und Arbeitgebende vor große Herausforderungen gestellt. Und es hat sich gezeigt: Neben den Maßnahmen zum Infektionsschutz müssen in Krisenzeiten auch die daraus resultierenden Gefährdungen durch psychische Belastung der Beschäftigten in den Fokus gerückt werden. Esin Taşkan leitet das Sachgebiet Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt bei der DGUV. Sie legt dar, wie die Arbeit gestaltet werden kann, damit Beschäftigte gut durch Krisenzeiten kommen – und welche Lehren für künftige Krisensituationen gezogen werden können.

Frau Taşkan, in den meisten Betrieben wurden die Sonderregeln zum Infektionsschutz mittlerweile gekippt. Doch wie steht es um die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie auf das psychische Befinden von Beschäftigten?

Belastbare Ergebnisse über langfristige Folgen der Pandemie auf die psychische Gesundheit von Beschäftigten gibt es derzeit noch nicht. Dafür zeigen interessante Statistiken der Krankenkassen (DAK, AOK, BKK) einen neuen Trend: Demnach sind zwar Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen auf ungefähr gleichem Niveau geblieben, jedoch ist die Anzahl der Tage, bis die Arbeit wieder aufgenommen wird, deutlich angestiegen. Lediglich bei einzelnen vulnerablen Personengruppen scheint auch die Anzahl der Fälle für psychische Erkrankungen zugenommen zu haben, zum Beispiel in pflegenden Berufen. Kürzlich veröffentlichte Studien vom IPA und der BAuA zeigen, dass in der Regel für Berufe, in denen ein hohes Infektionsrisiko mit SARS-Cov-2 besteht, mehr Depressions- und Angstsymptome von den Beschäftigten berichtet werden.

So wundert es nicht, dass hinsichtlich der Branchen in beiden Studien, neben dem Gesundheitswesen, insbesondere Beschäftigte im Erziehungs- und Sozialwesen erwähnt werden. Ob dieser Zustand jedoch nun auch auf die endemische Phase zutrifft, in der wir uns befinden, werden erst zukünftige Forschungsarbeiten zeigen.

Auch muss weiter beobachtet werden, wie sich Post-Covid beziehungsweise Long-Covid weiterentwickeln. Denn Betroffene berichten ebenfalls häufig von Konzentrations- und Gedächtnisproblemen sowie von psychischen Beschwerden. Unabhängig davon zeigten jedoch auch Umfragen während der Pandemie, etwa der Initiative psyGA aus dem Jahr 2021, dass nur wenigen Befragten die andauernde Krisensituation eigenen Angaben zufolge an die Substanz ging.

Welche Personengruppen sind in einer Krisensituation wie der Corona-Pandemie besonders gefordert?

Besonders herausgefordert waren nach meiner Ansicht bei der Corona-Pandemie drei Personengruppen, die in Studien zur Pandemie immer wieder eine Rolle spielten: Beschäftigte im Gesundheitsdienst, berufstätige Frauen und alleinstehende Beschäftigte.

Die Gefahr psychischer Störungen ist im Gesundheitsdienst auch unter Normalbedingungen wegen möglicher traumatischer Ereignisse im Beruf erhöht. Eine Vielzahl von Studien zeigt derzeit, dass die Coronakrise Gefühle der Angst, Hoffnungslosigkeit und Depressivität verstärkt hat. Eine gute Arbeitsgestaltung und ein Auffangnetz mit psychologischer Erstbetreuung, Kriseninterventionsteams sowie professioneller psychologischer Unterstützung bei anhaltenden Störungen konnten hier Abhilfe schaffen. Solche Instrumente sollten auch für künftige Krisenzeiten schnell und effizient eingesetzt werden, um Beschäftigte zu unterstützen.

Berufstätige Frauen sind und waren sehr gefordert, weil sie einen Großteil der informellen Sorgearbeit leisten. Die Pandemie hat die traditionellen Geschlechterrollen verstärkt. Viele Familien haben mit dem Ende der Corona-Maßnahmen zwar wieder einen Weg in die Normalität gefunden. Aber Frauen waren angesichts der Mehrbelastungen eine besonders vulnerable Gruppe in der Pandemie. Die Folgen äußern sich heute in den Krankenständen aufgrund psychischer Erkrankungen.

Durchgängig herausgefordert während einer Pandemie waren diejenigen, die alleinstehend sind. Für sie sind Kontakte bei der Arbeit umso wichtiger. Manche Beschäftigte fühlten sich daher sozial isoliert. Derzeit erleben wir, dass viele Betriebe auf hybrides Arbeiten umstellen. Und zwar aufgrund der positiven Erfahrungen mit dieser Arbeitsform und dem Wunsch vieler Beschäftigter. Auch hier gilt, wie auch während der Pandemie, der Isolation mit den neuen Kommunikationsformen entgegenzuwirken: Statt eine Mail zu schreiben, kann man mit dem Kollegen eine Unterhaltung per Video führen. In berufliche Gespräche bewusst Smalltalk einfließen zu lassen, führt dazu, dass sich die Kolleginnen und Kollegen besser wahrgenommen fühlen.

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Nur Fragebögen auswerten reicht nicht: Wie psychische Belastung in der Gefährdungsbeurteilung erfasst werden kann.

Wie reagieren Arbeitnehmende auf außergewöhnliche Situationen wie eine Pandemie, die beruflich und privat für einen Ausnahmezustand sorgt?

Das ist individuell sehr verschieden. Auf der körperlichen Ebene reichen die Reaktionen von Magen-Darm-Problemen über Kopfschmerzen bis hin zu Herzrasen und Schwitzen, der Blutdruck kann sich erhöhen. Viele schlafen auch schlecht, sind entsprechend ausgelaugt und müde. Gerade Menschen, die sich sehr stark mit ihrer Arbeit identifizieren, schätzen ihre eigene Leistung oft als zu gering ein.

Zu viel Stress oder auch ein andauernder Ausnahmezustand ziehen mitunter auch eine gewisse erlernte Hilflosigkeit nach sich – die Beschäftigten resignieren. Die Einschätzung, an der Situation ja doch nichts ändern zu können, ist gefährlich. Spätestens wenn Erholungspausen ausgelassen werden, der Konsum von Alkohol und Zigaretten steigt und der Appetit verloren geht oder Heißhunger verstärkt auftritt, schrillen alle Alarmglocken.

Wenn Beschäftigte in Krisenzeiten nicht selbst dafür sorgen können, dass es ihnen gut geht, sind auch Betriebe und Einrichtungen zum Handeln verpflichtet. Welche spezifischen Aufgaben kommen der Führungskraft zu?

In Situationen wie einer so schweren Pandemie, aber auch in anderen Krisen ist es wichtig, dass auch die Führungskraft Prioritäten setzen kann und gemeinsam mit dem Team überlegt, was unter den veränderten Bedingungen gemacht und beachtet werden muss. Wenn eine Kollegin beispielsweise wegen eines Quarantänefalls in der Familie sowohl arbeiten als auch Kinder betreuen muss, dann kann sie natürlich nicht mehr die gewohnte Leistung erbringen. Hier hat die Führungskraft klar zu definieren: Was muss erreicht werden? Gegebenenfalls müssen Dinge auch zurückgestellt werden.

Neben der Organisation ist auch Empathie wichtig. Die Führungskraft muss ein offenes Ohr haben für die Ängste und Bedenken ihrer Mitarbeitenden. Lösungen gemeinsam zu ersinnen, schafft ein Wir-Gefühl und stärkt das Empfinden, der Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein.

Wo finden Organisationen Informationen für ein planvolles Vorgehen, um Beschäftigte zu unterstützen?

Grundsätzlich sind Arbeitgebende verpflichtet, das Thema psychische Belastung in der Gefährdungsbeurteilung zu erfassen, auch unabhängig von Krisenzeiten. Dazu gibt es Handlungshilfen von der DGUV. Zusätzlich gibt es Handlungshilfen, die insbesondere die psychische Belastung und Beanspruchung durch die Corona-Pandemie in den Fokus nehmen – sollte sich die Pandemielage erneut verschärfen oder eine ähnliche Krisensituation eintreten, sind Hilfen wie diese erneut heranzuziehen – oder, angepasst an die jeweilige Situation, neu zu erstellen. Transparent und bewusst sollten Arbeitgebende die Einschränkungen der Kommunikation und Kooperation bei der Arbeit thematisieren, einen Raum bieten, Sorgen und Ängste anzusprechen, kritische Situationen mit Kundinnen und Kunden besprechen, Belastungen durch zu viel oder zu wenig Arbeit organisatorisch aufgreifen.

Miteinander ins Gespräch zu kommen, ist also von großer Bedeutung. Die Dialogkarten „Kulturdialoge: Prävention“ der gesetzlichen Unfallversicherung, etwa die „Dialogkarten zum Thema Psychische Belastung“ oder „Dialogkarten zum Thema Pandemie“ können dabei eine gute Hilfe sein. Mit ihnen können sich die Teams über erlebte Situationen austauschen, Diskussionen anstoßen und Lösungsansätze entwickeln.

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Was hilft Beschäftigten, mit widrigen Umständen gut umzugehen?

In besonderen Belastungssituationen bleiben Menschen eher gesund, wenn sie ihre Arbeitssituation als sinnvoll, verstehbar und handhabbar begreifen. Man spricht dann von einem Kohärenzgefühl. Es ist daher empfehlenswert, dass Organisationen und Führungskräfte versuchen, Sachverhalte und daraus folgende Regelungen im betrieblichen Ablauf während einer Pandemie für die Beschäftigten immer wieder zu erklären und einzuordnen. Wenn Beschäftigte dieses Kohärenzgefühl haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie am Ende weniger beansprucht sind und mit der Situation besser umgehen können.

Im Übrigen muss auch die Führungskraft selbst dieses Kohärenzgefühl für sich herstellen können. Ideal ist es, wenn sie in ein Führungsteam eingebunden ist, in dem man sich gut miteinander austauschen kann und gemeinsam besprochen wird, wie vorzugehen ist. Klappt das nicht, muss die Führungskraft wiederum mit ihren Vorgesetzten sprechen, sich im eigenen Umfeld Sparringspartner suchen oder ein Coaching machen. Es gibt mittlerweile sehr viele Onlineseminare und -trainings zum Thema Führen in der Krise und Krisenmanagement.

Kohärenz ist also sehr wichtig. Was aber können Beschäftigte tun, wenn sie merken, dass sich das Kohärenzgefühl nicht einstellt?

Viele, vor allem größere Unternehmen, bieten ein sogenanntes Employee Assistance Program (EAP) an. Das ist im Prinzip eine Telefonhotline, an die sich Beschäftigte wenden können, um über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen. Möchte man sich nicht an seine Führungskraft wenden, ist ein solches EAP eine gute Alternative.

Wenn die Beanspruchung so stark ist, dass man körperliche Beschwerden hat, beispielsweise nicht mehr schlafen kann, die Ängste überhandnehmen und man eine Obsession mit dem Thema entwickelt, dann sollte man die Seelsorge, Therapeutinnen und Therapeuten oder externe Kriseninterventionsteams konsultieren.

Welche Lehren lassen sich aus der Corona-Krise ziehen, damit Arbeitgebende ihre Beschäftigten auch künftig bei Gefährdungen durch psychische Belastung bestmöglich unterstützen können?

Betriebe, die bereits einen gut funktionierenden Arbeitsschutz etabliert hatten, sind besser durch die Pandemie gekommen. War insbesondere das Thema psychische Belastung bereits mit Maßnahmen im Betrieb etabliert, konnten Lösungen schnell gefunden und umgesetzt werden. Etwa, weil die soziale Unterstützung im Team stimmte, Verantwortlichkeiten klar benannt waren, Mitarbeitende Handlungsspielräume hatten und vieles mehr.

Insbesondere die Beurteilung der Arbeitsbedingungen durch die Gefährdungsbeurteilung hat als organisierendes Instrument in Betrieben durch die Pandemie noch weiter an Bedeutung gewonnen. Aktiv die Arbeit so zu gestalten, dass Gefährdungen vermieden werden, das war und ist ganz zentral.

Hat die Pandemie vielleicht auch dazu beigetragen, das Thema psychische Belastung in Unternehmen grundsätzlich stärker in den Fokus zu rücken – und langfristig Methoden zur Ermittlung und Vermeidung von Gefährdungen zu etablieren? Denn auch ohne Krisensituation sind Beschäftigte ja davon betroffen.

Berufsgenossenschaften haben insbesondere im letzten Jahr vermehrt Anfragen erhalten, wie mit psychischen Erkrankungen von Beschäftigten in Betrieben umzugehen ist. Es gibt hierzu eine sehr gute Schrift der DGUV mit dem Titel „Umgang mit psychisch beeinträchtigten Beschäftigten“, die wir in der Regel empfehlen. Gleichzeitig lohnt es sich bei diesem Thema, auch den Kontakt zu Krankenkassen zu suchen, da diese gute Angebote vorhalten. Grundsätzlich empfehlen wir immer, im Sinne der Prävention einen genauen Blick auf die arbeitsbedingte psychische Belastung zu werfen. Und, wie seit 2013 vorgeschrieben, die psychische Belastung in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen, damit Gesundheitsbeeinträchtigungen aufgrund der Arbeit vermieden oder minimiert werden.

Wie können Sicherheitsbeauftragte ihre Kolleginnen und Kollegen unterstützen?

Wenn die psychische Belastung bisher im Betrieb noch nicht berücksichtigt wurde und Sicherheitsbeauftragte den Eindruck haben, dass Handlungsbedarf besteht, sollten sie sich nicht scheuen, das Thema im Betrieb anzusprechen. Dann kann gegebenenfalls der Prozess in Gang gesetzt werden. Wenn das Thema bereits berücksichtigt wurde und Sicherheitsbeauftragte in ihren Organisationseinheiten erneuten akuten Handlungsbedarf feststellen – etwa, weil es Kommunikationsprobleme unter Kolleginnen und Kollegen gibt oder hoher Zeitdruck bei hoher Arbeitsmenge herrscht – könnte es angezeigt sein, im Sinne der Arbeitsgestaltung die psychische Belastung erneut näher zu betrachten.  Sicherheitsbeauftragte können ihre Beobachtungen bei ihren Vorgesetzten ansprechen, um möglichen Handlungsbedarf anzuregen.