Arbeitssicherheit : Antirassismus im Unternehmen: „Verantwortung übernehmen“
Der Begriff „Vielfalt“ ist heute in vielen Unternehmen präsent – ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld für alle Beschäftigten ist aber noch längst nicht selbstverständlich. Auch, weil oft Wissen und Ideen fehlen, wie positive Veränderung im Arbeitsalltag angeschoben werden kann. Antirassismus in Unternehmen ist eines von vielen Themen, das dabei nicht ignoriert werden sollte.
Denn um Beschäftigte vor Rassismus zu schützen, müssen alle Mitarbeitenden für Rassismus im Arbeitsalltag sensibilisiert werden. Unterstützung bei der Umsetzung gibt es zum Beispiel von der Initiative Charta der Vielfalt e.V., die sich für mehr Diversität in der Arbeitswelt engagiert. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten für Antirassismusaufklärung hat die Initiative die „Toolbox Antirassismus“ entwickelt: eine umfassende Handlungshilfe mit verschiedenen Lern- und Austausch-Formaten.
Zum Deutschen Diversity-Tag am 23. Mai 2023 erklären Corina Christen, Co-Geschäftsführerin der Charta der Vielfalt, und die verantwortliche Projektmanagerin Selma Güngör das Konzept der Toolbox. Und geben Tipps, wie Beschäftigte und insbesondere Sicherheitsbeauftragte in das Thema einsteigen und Vielfalt und Antirassismus im Unternehmen aktiv mitgestalten können.
Frau Christen, Frau Güngör, zum Deutschen Diversity-Tag stehen ganz viele Begriffe rund um das Thema Vielfalt im Fokus. Einer davon ist Antirassismus, mit dem vermutlich jede und jeder etwas anfangen kann. Müsste man nicht davon ausgehen, dass ein Bewusstsein für dieses Thema bereits vorhanden ist?
Corina Christen: Ja, das wäre schön, aber laut unserer Erfahrung ist das Thema noch zu wenig sichtbar. Diese Rückmeldung haben wir auch von vielen unserer Mitgliedsunternehmen bekommen. Oft fehlt schlichtweg das Wissen, wo Rassismus anfängt und wie antirassistische Arbeit funktioniert. Aber der Bedarf ist da. Das war auch der Grund, warum wir das Thema umfassend angehen wollten und dieses Pilotprojekt zur antirassistischen Bewusstseinsbildung gestartet haben, aus der dann die Toolbox Antirassismus hervorgegangen ist.
Was ist das Ziel der Toolbox „Antirassismus“?
Selma Güngör: Vorrangig ging es uns darum, ein Bewusstsein für das Thema Antirassismus im Unternehmen zu schaffen. Und zwar bei allen Beschäftigten. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass es keine machtfreien und auch keine rassismusfreien Bereiche gibt. Und: Jeder Mensch ist rassistisch geprägt, ob bewusst oder unbewusst. Das sind die ersten Learnings der Toolbox. Wenn diese Problematik klar ist, kann ich hinterfragen: Welche Machtstrukturen gibt es in meinem Unternehmen, wo stehe ich selbst, welche Privilegien habe ich, bin ich selbst von Rassismus betroffen? Mit ‚Betroffenen‘ meinen wir Menschen, die direkte, persönliche Rassismuserfahrungen machen.
Im nächsten Schritt können Beschäftigte in den Austausch gehen, das Thema im Unternehmen verbreiten. Wichtig ist, dass die Toolbox auch von Rassismus Betroffenen Werkzeuge an die Hand geben will und ihre Kommunikationskompetenz stärken soll. Und die Austauschformate sollen ihnen eine Stimme geben.
Stichwort Kommunikationskompetenz Betroffener: Oft werden Menschen, die Rassismus direkt erfahren, unfreiwillig zu Expertinnen und Experten erklärt und sollen den Nicht-Betroffenen das Thema erklären. Genau da soll die Toolbox ja eher entgegensteuern, oder?
Das ist in der Tat ein Balanceakt. Was können und sollen Betroffene selber tun, wie kann ein Projekt wie die Toolbox ihnen eine Bühne geben – gleichzeitig aber die Nicht-Betroffenen in die Verantwortung nehmen, sich aktiv mit Antirassismus auseinanderzusetzen? Auch dank der vielfältigen Perspektiven der Testgruppe, die alle Inhalte der Toolbox vorab durchgespielt hat (s. Infobox unten), haben wir es aber unserer Meinung nach gut hinbekommen, allen Nutzenden gerecht zu werden. Ohne dabei Nicht-Betroffene aus der Verantwortung zu nehmen.
Wie können Beschäftigte die Toolbox konkret nutzen? Ist die Unterteilung in die drei Bereiche „Kompetenz stärken“, „Awareness schaffen“, „Veränderungen anstoßen“ mit jeweils eigenen Inhalten als Reihenfolge gedacht?
Güngör: Ja, im Idealfall starten Nutzende, die erst wenig Erfahrung mit dem Thema Antirassismus haben, mit dem Bereich ‚Kompetenz stärken‘. Diese Lernformate sind darauf ausgelegt, zunächst erste Grundlagen zu schaffen. Es gibt beispielsweise einen Methodenkoffer mit der Publikation „Antirassistische Bewusstseinsbildung“. Außerdem Checklisten, wie ich über Rassismus sprechen kann sowie unser Grundlagen-Wiki, einem Glossar mit allen wichtigen Begriffen. Wir empfehlen allen Nutzenden, zumindest einen Teil dieser Materialien zu lesen, bevor sie in den Austausch mit anderen, möglicherweise von Rassismus Betroffenen gehen. Denn es ist ein sensibles Thema, und ein erstes Vorwissen schafft Sicherheit für alle Beteiligten. Oft werden rassistische Begriffe ja ganz unbewusst genutzt.
Dann kann ich mich den Bereichen „Awareness schaffen“ und zuletzt „Veränderungen anstoßen“ widmen. Vor allem letzterer liefert auch Formate für Gruppen, etwa das Austauschformat „Dialogtisch(e)“. Auch finden Nutzende Strategiekarten, die helfen, im Moment einer rassistischen Handlung die richtigen Worte zu finden. Die Grundidee ist, sich erst selbst zu informieren und dann zur Multiplikatorin oder zum Multiplikator zu werden. Sprich, Verbündete im Unternehmen zu finden, mit denen man das Thema Antirassismus vorantreiben kann.
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Auch die funktionierende Zusammenarbeit von Beschäftigten mit und ohne Behinderung sollte in Betrieben gezielt gefördert werden. Inklusionsbeauftragte Iris Fleischer berichtet, wie sich Barrieren abbauen lassen.
Und wie kann ich diese Verbündeten finden? Wen sollte ich im Unternehmen am besten ansprechen?
Christen: Natürlich können einzelne Beschäftigte nicht alleine das große Thema antirassistische Bewusstseinsbildung schultern. Für nachhaltige Veränderungen muss auf struktureller Ebene etwas passieren. Wenn die Initiative also nicht aus der Führungsriege, sondern von Beschäftigten kommt, braucht es Unterstützung. In größeren Unternehmen gibt es oft Integrations- oder zumindest Gleichstellungsbeauftragte, an die sich Beschäftigte wenden können. In kleineren Unternehmen können die Führungskräfte auch direkt angesprochen werden mit der Bitte, einen Raum für Austausch zu schaffen und gemeinsam Ideen zu überlegen.
Hier können bestimmt auch Sicherheitsbeauftragte unterstützen – oder sich idealerweise direkt selbst mit der Toolbox befassen?
Christen: Richtig, Sicherheitsbeauftragte können hier eine gute Schnittstelle sein und das Engagement von Kolleginnen und Kollegen unterstützen. Noch besser ist es natürlich, wenn auch sie zunächst ihr Grundwissen mithilfe der Toolbox erweitern. Das hilft im Arbeitsalltag dabei, auf diskriminierende Situationen richtig zu reagieren, Mitarbeitende gezielt anzusprechen und Hilfe anzubieten. So können auch sie Multiplikatoren zum Thema Antirassismus sein und so den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb fördern. Denn andauernde Diskriminierungserfahrungen schlagen sich auf die mentale Gesundheit von Mitarbeitenden nieder.
Und wie können Sicherheitsbeauftragte oder andere Mitarbeitende, die das Thema Antirassismus in Unternehmen voranbringen wollen, auf ablehnende Kommentare reagieren? Etwa: „Für all die Lektüre habe ich keine Zeit“, oder „ich bin überhaupt nicht rassistisch, also muss ich mich damit nicht beschäftigen“?
Güngör: Ich antworte dann gerne: Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Wir leben alle in einem System, in dem rassistische Strukturen fest verankert sind. Niemand kann sich davon freimachen. Das nimmt vielleicht den Druck raus. Es geht nicht darum, einzelne Personen abzustrafen oder zu gucken, wer hat hier etwas falsch gemacht. Wir sind alle betroffen und wir alle müssen festgefahrene Denkweisen hinterfragen. Niemand kann einfach so nicht rassistisch sein, sondern wir müssen aktiv antirassistisch sein, um Veränderungen zu bewirken.
Hintergrund: Zur Entstehung der Toolbox „Antirassismus“
- Für das Pilotprojekt hat die Initiative Charta der Vielfalt verschiedene Expertinnen und Experten ins Boot geholt:
- eine Testgruppe, zusammengesetzt aus Diversity-Mitarbeitenden-Netzwerken der Mitgliedsunternehmen, sowie das Anti-Rassismus Informations-Centrum ARIC-NRW e.V. als Fachpartnerin
- die Inhalte der Toolbox wurden gemeinsam mit dem ARIC-NRW e.V. konzipiert, diese wurden dann von der Testgruppe durchgespielt
- gefördert wurde das Projekt von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus