Digitalisierung : Exoskelette: Entlasten sie wirklich?
Obwohl seit Jahren Exoskelette für den Einsatz bei der Arbeit auf den Markt kommen, ist ihre Wirkung auf den Körper bislang weitgehend unbekannt. Seit 2013 beschäftigt sich Dr. Kai Heinrich mit Exoskeletten. Am Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) leitet der Biomechaniker den Bereich Muskel-Skelett-Belastung.
Mit weiteren Fachleuten aus der Biologie, Ergonomie und Arbeitsschutz ist Heinrich in mehrere Forschungsprojekten involviert, die die Auswirkung von Exoskeletten auf den menschlichen Körper untersuchen. Im Interview erläutert der Experte, welche Chancen und Risiken sich – nach aktuellem Stand der Forschung –aus dem Einsatz von Exoskeletten ergeben könnten.
Herr Dr. Heinrich, was genau sind Exoskelette?
Der Begriff Exoskelett meint kein bestimmtes System, sondern umfasst eine Vielzahl an orthetischen Systemen. Damit sind am Körper getragene Assistenzsysteme gemeint, die von außen und mechanisch auf den Körper einwirken. Es handelt sich demnach um Außengerüste – was auch im Wort „Exoskelett“ steckt.
Ganz grob können wir zwischen passive und aktive Exoskelette unterscheiden. Passive Exoskelette funktionieren mit mechanischen Elementen, die Energie einspeichern und zurückgeben. Das können beispielsweise Federn sein. Aktive Exoskelette werden hingegen elektrisch angetrieben, meist über kleine Motoren.
Welche Funktionen haben Exoskelette?
Die Grundidee lautet: Exoskelette sollen den menschlichen Körper unterstützen. Diese Funktion erfüllen sie in unterschiedlichen Zusammenhängen. Das erste und bis heute wichtigste Anwendungsfeld ist die Medizin. Bei Personen mit schweren Verletzungen werden Exoskelette beispielsweise bei der Rehabilitation eingesetzt. Mithilfe der Exoskelette können Patientinnen und Patienten bestimmte Bewegungsabläufe besser oder überhaupt erst trainieren.
Nach der Medizin entdeckten das Militär und der Leistungssport Exoskelette. Hier werden sie eingesetzt, um die körperliche Leistung zu steigern. Daran schloss sich später ein neuer Denkansatz an: Exoskelette nutzen, um den Körper zu entlasten.
Somit wurden Exoskelette für den Arbeitsschutz relevant, richtig?
Ganz genau! Exoskelette könnten möglicherweise als Präventionsmaßnahme eingesetzt werden. Im beruflichen Umfeld gibt es Tätigkeiten, die Überlastungen provozieren. Diese können langfristig zu Muskel-Skelett-Erkrankungen oder Berufskrankheiten führen.
Um davor zu schützen, wurden in den vergangenen Jahren spezielle Exoskelette entwickelt. Sie unterstützen den Körper bei bestimmten Tätigkeiten und sollen so eine Entlastung herbeiführen. Sie sollen beispielsweise beim Anheben von Lasten die Belastung am Rücken reduzieren. Oder bei Tätigkeiten oberhalb der Schulter- oder Kopfhöhe die Schultermuskulatur entlasten.
Für welche Branchen sind Exoskelette interessant?
An allen Arbeitsplätzen, an denen Beschäftigte Lasten bewegen müssen, wäre der Einsatz von Exoskeletten grundsätzlich sinnvoll. Das betrifft zum Beispiel die Logistik oder der Versandhandel.
Ein anderer Bereich ist die industrielle Montage, etwa der Waggonbau, die Automobil- oder Flugzeugmontage. Auch im Handwerk, im Bauwesen oder in der Pflege könnten Exoskelette künftig eine Rolle spielen.
Dass Exoskelette körperliche Belastung reduziert, ist eine weit verbreitete Annahme. Ist sie korrekt?
Das ist gar nicht so einfach zu belegen. Bislang wurden in der Forschung hauptsächlich Tätigkeiten im Labor nachgestellt. Dabei befinden sich auf der Muskulatur Sensoren. Sie messen, wie stark der Muskel angespannt beziehungsweise aktiv ist. Mithilfe dieser Methode kommt man tatsächlich zu dem Schluss, dass das Exoskelett auf diese eine Muskulatur und bei dieser einen Tätigkeit entlastend wirkt.
Allerdings nehmen solche Untersuchungen eben nicht den gesamten Körper in den Blick, sondern konzentrieren sich auf eine Muskelgruppe. Bei einem Exoskelett zum Beispiel, das die Rumpfmuskulatur unterstützt, wird nur die Rumpfmuskulatur betrachtet.
Was bedeutet das?
Aus der Erkenntnis, dass ein einziger Muskel entlastet wird, lässt sich nicht schließen, dass ein Exoskelett grundsätzlich den gesamten Körper entlastet. Wir benötigen demnach Studien, die den Körper ganzheitlich betrachten.
Die wenigen Studien, die das schon gemacht haben, zeigten, dass die Körperbereiche, die nicht Ziel der Entlastung waren, teilweise ein bisschen mehr belastet wurden. Was das bedeutet – ob dies kritisch ist oder nicht –, weiß man aber aktuell noch nicht.
Ebenso lässt sich schwer sagen, dass wenn ich punktuell bei bestimmten Tätigkeiten im Labor eine Entlastung beobachten kann, dass langfristig Muskel-Skelett-Beschwerden oder gar Erkrankungen durch Exoskelette verhindert werden können.
Das IFA forscht selbst auch an Exoskeletten. Welche Erkenntnis haben die Studien geliefert?
In Zusammenarbeit mit Airbus in Bremen haben wir zunächst eine Kurzzeitstudie durchgeführt. Diese lieferte Anhaltspunkte, dass Exoskelette das Muskel-Skelett-System kurzfristig entlasten. Von einer Studie, die über mehrere Monate lief, erhoffen
wir uns mehr Erkenntnisse. Ein erstes Zwischenergebnis stimmt mich vorsichtig optimistisch. Demnach liefern die Exoskelette über den Verlauf eines Arbeitstages eine Unterstützung von etwa zehn Prozent der maximalen Muskelkraft-Kapazität. Das ist durchaus viel.
Ob sich ein solcher Wert aber auch über einen längeren Zeitraum nachweisen lässt? Genaueres wird erst nach der Auswertung zu sagen sein. Wahrscheinlich braucht es aber noch längerfristige Studien, um klare Aussagen treffen zu können. Denn Beschwerden am Muskel-Skelett-System entwickeln sich über Jahre. Hinzu kommt, dass bei dieser Studie nur Probandinnen und Probanden dabei waren, die zuvor nicht über Beschwerden klagten.
Tipps zum Weiterlesen
- Mehr Informationen über Exoskelette liefert ein FAQ des IFA.
- Eine praktische Handlungshilfe ist die Checkliste zum Einsatz von Exoskeletten in Unternehmen.
- Muster-Gefährdungsbeurteilung, um Risiken und Schutzmaßnahmen für den Einsatz von Exoskeletten zu ermitteln.
Entstehen durch den Einsatz von Exoskeletten neue Gefährdungen?
Ja, es entstehen ganz vielfältige Gefährdungen. Es gibt zum Beispiel mechanische Gefährdungen. Manche Exoskelette arbeiten mit sogenannten Blattfedern. Diese werden über einen Seilzug am Rücken gespannt. Wenn Beschäftigte aus Versehen mit dem Finger dazwischengeraten, können sie sich klemmen. Das betrifft weniger die Person mit dem Exoskelett selbst, sondern umstehende Kolleginnen und Kollegen.
Gibt es weitere Gefährdungen?
Je nach Art des Exoskeletts, kann die Bewegungsfreiheit eingeschränkt sein. Draus leiten sich ebenfalls Gefährdungen ableiten. Was passiert zum Beispiel in einem Notfall? Wenn jemand aufgrund von Feueralarm weglaufen muss, wird die Person durch das Exoskelett möglicherweise daran gehindert. Auch bei Fehlfunktionen des Exoskelettes können Gefährdungen entstehen, beispielsweise wenn sich defekte Motoren an aktiven Exoskeletten nicht abstellen lassen. Solche und viele andere Gefährdungen muss man beim Einsatz von Exoskeletten bedenken.