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Ergonomisch arbeiten
Arbeiten auf Schulterhöhe und darüber belasten das Muskel-Skelett-System. Ein am Körper getragenes Exoskelett soll entlasten. © Frank Siemers

Gesundheitsschutz : Ergonomisch arbeiten

Die Firma Airbus geht verschiedene Wege, um die Ergonomie im Flugzeugbau zu verbessern und die körperliche Beanspruchung auch mit Exoskeletten zu.

Um 5 Uhr morgens beginnt in Halle 400 die Frühschicht. Franziska Christians gehört zu jenen, deren Arbeit nun anfängt. Bevor sie einen Fuß in die Produktionshalle bei Airbus Defence and Space Bremen setzt, prüft sie erst einmal ihre Ausrüstung. Neben persönlicher Schutzausrüstung – wie Sicherheitsschuhe, eine Stoßkappe und Schutzbrille – gehört bei ihr auch ein spezielles Hilfsmittel dazu: ein Exoskelett.

Ihr Arbeitsplatz liegt im Rumpf eines künftigen Flugzeugs. Das Exoskelett legt sie an, bevor sie den Bauplatz betritt. „Das ist wie ein Rucksack: leicht – und ich kann die Riemen so einstellen, dass es gut sitzt“, sagt Franziska Christians. Das am Körper getragene Assistenzsystem soll ihre Muskulatur während der Arbeit entlasten. Zu Christians’ Tätigkeiten gehört auch, Nieten zu ziehen. 400 sind es allein in einem der Spantfelder, einem rund zweieinhalb Meter langen Bogen.

Ein großer Teil der Nieten ist nur auf Schulterhöhe oder darüber zu erreichen. Eine solche Zwangshaltung belastet das Muskel-Skelett-System– vor allem wenn diese über einen längeren Zeitraum eingenommen wird. Das Hilfsmittel soll dazu beitragen, die Belastung zu verringern. Nach eigener Erfahrung funktioniert es bei Franziska Christians: „Ohne Exoskelett war die Arbeit für mich deutlich anstrengender.“

Christian Boehm, Fachkraft für Arbeits­sicherheit, prüft, ob das Exoskelett von Franziska Christians gut eingestellt ist. © Frank Siemers

Schilder weisen an vielen Stellen auf mögliche Risiken hin

Alle Nieten, die die Werkerin mithilfe eines sogenannten Nietenabziehers entfernt hat, wandern in den FOD-Beutel. Einen solchen Beutel für Fremdkörper (FOD = Foreign Object Debris) tragen alle Menschen in der Halle. Beschäftigte haben ihren persönlichen in Orange, Besucher einen in Neongelb. So wird sichergestellt, dass keine unerwünschten Objekte im Rumpf verblieben sind, wenn das Flugzeug später erstmalig in die Luft steigt.

Die im Flugzeugbau so wichtige ­Sicherheit des Produkts soll auch für die Arbeit und Gesundheit der Mitarbeitenden gelten. Boris Ruschkowski ist seit 1997 im Konzern. Seit 2019 ist er Sicherheitsbeauftragter: „Mich reizt es, dass ich mich einbringen und mitwirken kann, die Sicherheit bei uns zu erhöhen.“ Mit seinen Kolleginnen und Kollegen begeht er zum Beispiel täglich den Bauplatz, um ­sicherzustellen, dass es keine Probleme gibt.

In Halle 400 wird am Rumpf des Militärtransporters A400M gearbeitet. Mehrere Bauteile sind hier in mehreren Etagen übereinandergestapelt. Schilder weisen an verschiedenen Stellen auf Risiken hin: dass man an Treppen den Handlauf nutzen und nicht am Arbeitsplatz essen soll/darf, weil mit Gefahrstoffen hantiert wird, oder dass die Anstoßkappe aufzusetzen ist, damit sich niemand im niedrigen und engen Flugzeugrumpf am Kopf verletzt.

Ergonomie in der Produktion

Zur ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen zählen viele Faktoren wie Licht, Strahlung, Temperatur, Lärm sowie physische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz.

In Produktion und Montage spielt die Belastung des Muskel-Skelett-Systems eine wichtige Rolle.

Knochen, Muskeln, Bänder und Co. werden durch Tätigkeiten wie Heben, Tragen oder Schieben von Lasten stark gefordert. Gleiches gilt für sich ständig wiederholende Tätigkeiten sowie Arbeiten mit hohem Kraftaufwand.

Zwangshaltungen, bei denen der Körper über einen längeren Zeitraum hinweg geringe Bewegungsmöglichkeiten hat, belasten ebenfalls.

Vanessa Dembski setzt Hydraulikleitungen über Kopf in den Flugzeugrumpf ein. © Frank Siemers

Exoskelette in zwei Studien getestet

Vanessa Dembski ist an einem Ort im Flugzeugrumpf tätig, an dem die Decke niedrig hängt. Sie wirft noch einen Blick auf die Konstruktionszeichnungen auf dem Tablet, dann steigt sie auf einen Tritt. Ihr Arbeitsplatz ist ein Bauplatz für Ausrüstung. Dort baut sie Hydraulikrohre in einen Rumpf ein. Ein großer Teil ihrer Arbeit erfolgt über Kopf – sie muss also die Arme viel in Schulterhöhe und darüber halten.

„Ohne Exoskelett hatte ich immer wieder leichte Verspannungen. Mit dem Hilfsmittel nicht“, so Vanessa Dembski, die bereits seit ihrer Ausbildung 2007 für den Konzern und seit 2010 in Halle 400 arbeitet. Ihre Kollegin und sie nutzen passive Exoskelette. Das heißt, Federkraft unterstützt die eingesetzten Muskeln, die zwar noch immer genutzt werden, aber mit geringerem Kraftaufwand.

Airbus Defence and Space hat die Exoskelette zunächst testweise eingeführt. Acht Mitarbeitende konnten sie freiwillig nutzen. Denn wie gut solche Außengerüste helfen oder gar Muskel-Skelett-Belastungen vorbeugen, ist kaum belegt. „Aus der Praxis fehlten klare Empfehlungen“, sagt Christian Boehm, seit 2019 Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) bei Airbus und zuvor Sicherheitsbeauftragter. In Zusammenarbeit mit der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro und Medienerzeugnisse (BG ETEM) und dem Institut für ­Arbeitsschutz der DGUV (IFA) wurde der Nutzen der Exoskelette in zwei Studien getestet.

23 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage im Jahr 2021 sind auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen. Da sich auch im Flugzeugbau Belastungen wie Zwangshaltungen nicht vollständig vermeiden lassen, stellt der Einsatz von Exoskeletten eine erfolgreiche Alternative dar“, sagt ­Markus Tischendorf, Aufsichtsperson der BG ETEM.

Gefährdungen durch ­Exoskelette

  • Mechanisch: Finger quetschen, an Haaren hängen bleiben, mit dem Exoskelett anstoßen
  • Elektrisch: beschädigte Isolierung von Leitungen oder schadhafte Steckvorrichtungen
  • Thermisch: heiße Oberflächen am Exoskelett durch elektrische Betriebsmittel
  • Biologisch: Ansiedlung von Bakterien und Pilzen durch freigesetzte Stoffe aus dem Arbeitsprozess und durch Schweiß
  • Brand- und Explosions­gefährdungen: durch Akkus am Gerät
  • Physikalische Einwirkungen: Schwingungsübertragungen durch das Exoskelett oder Begünstigung unergonomischer Körperhaltungen
  • Physische Belastung: falsch angepasstes Exoskelett, zu hohes Eigengewicht

Muster-Gefährdungsbeurteilung zur Arbeit mit Exoskeletten

Gefährdungsbeurteilung vor erstem Einsatz der Exoskelette

Bevor die Beschäftigten die Hilfsmittel erstmalig nutzten, galt es, mögliche Risiken zu analysieren. Bei der Gefährdungsbeurteilung unterstützte Boris Ruschkowski die Fachkraft für Arbeitssicherheit und schaute sich auch die verwendeten Exoskelett-Modelle genau an. „Bei den Schrauben, mit denen sich die Intensität der Unterstützung einstellen lässt, bestand die Gefahr, dass sich andere Personen den Finger klemmen“, berichtet der Sicherheitsbeauftragte. Hinzu kam das Risiko, mit dem Hilfsmittel hängen zu bleiben. In Absprache mit dem Hersteller entwarfen die Arbeitsschützer einen Stoffüberzug, der über die sogenannten Blattfedern gestülpt wird. So ließ sich diese mechanische Gefährdung abwenden.

Vom Hersteller erhielten die an der Studie Beteiligten auch eine Einweisung in das Exoskelett, und das Hilfsmittel wurde auf ihre individuellen Bedürfnisse eingestellt. Außerdem wurden die Beschäftigten gründlich im Gebrauch unterwiesen. Sensoren maßen später regelmäßig den Effekt der Hilfsmittel für die Forschung. Die zweite und langfristig angelegte der beiden Studien ist gerade abgeschlossen. „Nach der Auswertung werden wir entscheiden, ob und wie wir Exoskelette weiterverwenden“, so Christian Boehm.

Ein Tisch mit drehbarer Platte verbessert die Ergonomie für Torsten Hanisch. © Frank Siemers

Die Exoskelette sind bei Weitem nicht die einzige Maßnahme, mit der die Ergonomie an Arbeitsplätzen in Halle 400 verbessert werden soll. Manche Kolleginnen und Kollegen von Vanessa Dembski nutzen am Bauplatz der Ausrüstung zum Beispiel Kissen oder Schoner, um ihre Knie zu entlasten. Um herauszubekommen, an welchem Arbeitsplatz was helfen kann, gibt es bei Airbus die Methode „Ergonomie Merkmal Methode Airbus“ (EMMA).

„Wir haben 1.716 Situationen mithilfe einer Screening-Software analysiert“, sagt Christian Boehm, der seit sechs Jahren Sifa ist. Die Ergebnisse wurden analysiert und nach einem Ampelsystem bewertet. Die als rot eingestuften Situationen ging Christian Boehm als erste schrittweise an. Je nach empfohlener Maßnahme bezog er die jeweiligen Führungskräfte ein. Außerdem unterstützen ihn die Sicherheitsbeauftragten. Zwei pro Bauplatz sind es allein in Halle 400.

Zu EMMA gehört aber auch, dass die Beschäftigten von Beginn an an Lösungen mitwirken. So beispielsweise in der Abteilung Ausrüstung. Torsten Hanisch arbeitet daran, von Zulieferfirmen geschickte Bündel für den Einbau vorzubereiten. Sie müssen aus der Plastikfolie geholt, entrollt und von überflüssigem Tapeband befreit werden. Die Bündel können bis zu 80 Kilogramm wiegen. Um sie nicht mit Muskelkraft auf die Arbeitsplatte heben zu müssen, haben Torsten Hanisch und seine Kolleginnen und Kollegen einen Hubwagen bekommen.

Als weitere Hilfe beim Entrollen der Bündel dient ein Tisch mit Drehplatte. „Eine Eigenkonstruktion, die auf ­Ideen unserer Mitarbeitenden basiert“, erläutert Christian Boehm. Außerdem wird die ergonomische Situation für Torsten Hanisch dadurch verbessert, dass er auf einem dämpfenden Teppich aus Kunststoff stehen kann. Ein Nierengurt entlastet seine Lendenwirbel zusätzlich, und Kisten mit benötigtem Werkzeug stehen nicht mehr auf dem Boden, sondern unter der Arbeitsplatte. So braucht sich Hanisch nicht zu bücken, um an sie heranzukommen. Schließlich wurde auch noch die Beleuchtung an seine Bedürfnisse angepasst.

Boris Ruschkowski ist seit 2019 Sicherheitsbeauftragter. © Frank Siemers

Dass solche Veränderungen an der Ergonomie angegangen werden, hat geholfen, die Sicherheitskultur bei Airbus Defence and Space zu verbessern. Die Werkerinnen und Werker sprechen Probleme von sich aus an. „Ich brauche nicht auf meine Kolleginnen und Kollegen zuzugehen. Sie kommen von selbst in der Werkshalle auf mich zu“, sagt Boris ­Ruschkowski. Und oftmals haben sie bereits Lösungsvorschläge parat – wie den Tisch mit Drehplatte. Ruschkowski und die anderen Sicherheitsbeauftragten müssen die Ideen dann nur an die Verantwortlichen im ­Arbeitsschutz weitergeben.

Klicktipp

Informationen zu Ergonomie und Aspekte der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsfeldern.