Gesundheitsschutz : Psychische Belastung: „Fragebögen auszuwerten reicht nicht“
Dr. Marlen Cosmar ist Diplom-Psychologin, Leiterin der Stabsstellen und Referentin der Institutsleitung am Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). Sie erklärt, warum das Thema psychische Belastung so wichtig für sicheres und gesundes Arbeiten ist. Und wie Unternehmen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung Belastungsfaktoren erkennen, erfassen und vermeiden können – zusammen mit den Beschäftigten.
Frau Dr. Cosmar, was genau ist psychische Belastung am Arbeitsplatz?
Es gibt eine Norm (DIN EN ISO 10 075), nach der alle Einflüsse, die von außen auf Menschen einwirken und sie psychisch beeinflussen, als psychische Belastung gelten. Am Arbeitsplatz kann das beispielsweise Lärm sein, das Arbeitsklima oder die Arbeitszeit. Oftmals ist es aber gar nicht so einfach, psychische beispielsweise von physischen Belastungen zu unterscheiden. Ein ständig wackelnder Bürostuhl kann sich sowohl körperlich als auch mental auf Beschäftigte einwirken.
Warum ist das Thema für den Arbeitsschutz so wichtig?
Psychische Faktoren am Arbeitsplatz beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln. Wenn etwa die Konzentration ständig gestört und der Leistungsdruck zu hoch ist, kann das eigene Verhalten negativ beeinflusst werden. Und damit steigt auch das Unfallrisiko.
Und wie können diese Faktoren in der Gefährdungsbeurteilung erfasst werden?
Es wird empfohlen, die psychische Belastung in sechs Kategorien einzuteilen, und zwar branchenübergreifend: Die erste Kategorie umfasst die Arbeitsinhalte, etwa, wie kompliziert die Aufgaben sind. Dann folgt die Arbeitsorganisation, beispielsweise, inwieweit sie sich selbst ihre Arbeitsablauf einteilen können. Weitere Kategorien sind Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung, Arbeitszeit und die sozialen Beziehungen. Wie genau das im Betrieb erhoben wird, ist nicht festgelegt. Das können die Betriebe selbst entscheiden.
Oft ist psychische Belastung nicht „sichtbar“. Was kann dabei helfen, um sie dennoch erfolgreich zu ermitteln?
Die Beschäftigten müssen von Anfang an eine genaue Vorstellung davon haben, was psychische Belastung ist und was sie nicht ist. Dieses Wissen zu vermitteln oder durch Fachkräfte vermitteln zu lassen, ist Aufgabe der Führungskräfte. Wenn Themen wie Zusammenarbeit oder die Arbeitsorganisation ohnehin schon häufig und offen im Unternehmen besprochen werden, ist es leichter, sich dem Thema zu nähern. Bei der Ermittlung selbst kommt es aber auch darauf an, eine passende Methode zu finden, in der Regel einen Fragebogen und beziehungsweise oder Workshops durchzuführen.
Wie genau kann dieser Prozess im Unternehmen umgesetzt werden?
Zunächst sollten die potenziellen Belastungsfaktoren für jede Tätigkeit ermittelt werden. Dafür kann man mit besagten Fragebögen starten. Aber nur auszuwerten, wie viele Beschäftigte beispielweise bei „häufige Unterbrechungen“ ein Kreuz gesetzt haben, reicht nicht. Für die Ableitung von Schutzmaßnahmen müssen diejenigen, die die Gefährdungsbeurteilung durchführen, zumindest mit einem Teil der Beschäftigten besprechen, wie diese Unterbrechungen aussehen und was genau sie dabei belastet. DGUV-Formate wie die „Ideentreffen“ eignen sich als Basis für solch einen Austausch. Eine Anleitung dazu gibt es auf Youtube. Wichtig ist dabei eine gute, wertschätzende Moderation solcher Formate, die im Zweifel besser von einer externen, neutralen Person übernommen werden kann. Sprich, es muss nicht die Fachkraft für Arbeitssicherheit moderieren, die oft zwar viel technisches Fachwissen mitbringt, aber nicht unbedingt Erfahrungen mit solchen Gesprächsformaten hat.
Und wie kann das im Austausch erarbeitete Wissen und die entsprechenden Maßnahmen auch langfristig für Veränderungen im Unternehmen sorgen?
Eine Gefährdungsbeurteilung ist ja immer ein fortlaufender Prozess. Und Teil des Prozesses ist es, die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen. Am besten ist es, wenn es verantwortliche Personen gibt, die am Thema dranbleiben. Es sollte immer wieder nachgefragt werden. Auch hier können Workshops hin und wieder sehr sinnvoll sein. Und es sollte gleichzeitig klar sein, dass sich nicht alles von heute auf morgen ändert. Eine mangelhafte Steckdose kann ich sofort reparieren. Wenn ich aber beispielsweise die Arbeitsintensität dauerhaft senken will, ist das ein längerer Prozess.
Zum Weiterlesen
Die DGUV-Information Psychische Belastung – der Schritt der Risikobeurteilung liefert wichtige Tipps für die Praxis.
Wie können Sicherheitsbeauftragte unterstützen?
Sicherheitsbeauftragte können aufmerksam für die psychische Belastung der Beschäftigten sein. Und Mitarbeitende etwa bei hoher Arbeitsintensität oder Konflikten direkt ansprechen. Zeigt sich, dass es sich um konstante und intensive Belastung handelt, sollten sie sich an die Fachkraft für Arbeitssicherheit oder die Führungskraft wenden. Dann kann die Thematik in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden.
Laut Psych-Report der DAK war die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen im Jahr 2021 auf einem Rekordhoch. Haben Zahlen wie diese und entsprechende mediale Berichte mit dafür gesorgt, dass das Thema mentale Gesundheit in Betrieben stärker fokussiert wird?
Das hat sicher damit zu tun. Zumal sich durch die mediale Aufmerksamkeit die Offenheit, über psychische Erkrankungen zu sprechen, erhöht hat. Aber hier ist eine differenzierte Betrachtung wichtig: Psychische Belastung am Arbeitsplatz führt nicht automatisch zu einer psychischen Erkrankung. Wenn das Hirn permanent auf Hochtouren läuft, stellt das aber in jedem Fall einen Risikofaktor dar. Ob psychische Belastung am Arbeitsplatz generell zugenommen hat, lässt sich bisher wissenschaftlich nicht belegen. Klar ist aber, dass Menschen in vielen Arbeitsbereichen häufiger Veränderungen und auch komplexere Anforderungen bewältigen müssen. Eine gute Arbeitsgestaltung mit Ausgleichsmöglichkeiten und Pausen sowie gute Qualifikation sind hier wichtige Ressourcen.
Lässt es sich denn bereits absehen, ob und wie die Corona-Pandemie die psychische Belastung am Arbeitsplatz verstärkt hat? Und haben sich seit 2020 Prozesse bewährt, mit denen Beschäftigte auch langfristig entlastet werden können?
Aktuell ist eine Beurteilung noch schwierig. Viele Unternehmen haben ihre Prozesse umgestellt und wir beobachten noch, wie sich das mittel- und langfristig auswirkt. Etwa, ob die Arbeit im Homeoffice Beschäftigte langfristig eher entlastet oder zunehmend isoliert. Auf jeden Fall müssen Führungskräfte hier aufpassen, dass sie den Draht zu den Beschäftigten nicht verlieren. Auf der anderen Seite waren einige Berufsgruppen, die während der Pandemie vor Ort arbeiten musste, durch besonders hohe Arbeitsintensität belastet. Hier gab es teilweise Entspannung. Gerade in der Pflegebranche oder in der Gastronomie hat sich Personal aber in erheblichem Umfang auch umorientiert. Für die verbliebenen Beschäftigten bedeutet das oft auch weiter eine hohe Arbeitsintensität.