Gesundheitsschutz : „Bei Post-COVID-Diagnosen greift oft das Ausschlussverfahren“
Herr Prof. Schwenkreis, das Post-COVID-Programm wurde 2021 gemeinsam von den BG Kliniken und der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) initiiert. Was waren damals die Kernziele?
Ende 2020 wurde klar, dass mit der COVID-19-Pandemie eine große Herausforderung auf die Unfallversicherungsträger zukommt. Es hatten sich viele Versicherte im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit infiziert und die Beschwerden wurden entsprechend als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall anerkannt. Es galt, dieser großen Anzahl an Beschäftigten mit ganz unterschiedlichen Beschwerden gezielte Hilfe zukommen zu lassen. Dabei benötigten die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen dringend Unterstützung.
Und es war auch aus medizinischer Sicht erforderlich, auf die Situation mit neuen Abläufen und Behandlungsmethoden zu reagieren. Schließlich war COVID ja ein ganz neues Krankheitsbild. Das Kernziel des Post-COVID-Programms ist es, betroffene Versicherte bestmöglich zu betreuen und zu behandeln. Es steht übrigens Versicherten aller Berufsgenossenschaften und Unfallkassen offen. Die BGW ist lediglich am häufigsten betroffen, weil medizinisches und Pflegepersonal hier einen großen Teil der Versicherten ausmachen.
Und wie wurde das Programm entwickelt?
Im BG Universitätsklinikum Bergmannsheil haben wir sehr früh erste Patienten mit Langzeitbeschwerden nach einer COVID-19-Infektion aufgenommen, schon ab Anfang 2021. Diese Untersuchungen waren praktisch der erste Schritt des heutigen Post-COVID-Programms. In der Neurologie wendeten wir schon seit vielen Jahren ein stationäres Programm zur Diagnostik von Patientinnen und Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma an, den sogenannten Brain Check. Wir haben uns dann innerhalb der AG Neurotrauma der BG-Kliniken (Anm.: Arbeitsgemeinschaft der Neurologen und Neurochirurgen in den BG-Kliniken) kurzentschlossen überlegt, diesen Brain Check als Basisuntersuchung auch für die Post-COVID-Betroffenen zu nutzen – diesen aber um internistische und weitere Diagnoseverfahren zu ergänzen. Denn Menschen mit Post-COVID haben ja ganz unterschiedliche Symptomatiken. Am Ende fügte sich dieses Verfahren zu einer interdisziplinären Post-COVID-Diagnostik zusammen, dem Post-COVID-Check. In Absprache mit den anderen BG Kliniken und der BGW wurde dann offiziell das Post-COVID-Programm initiiert.
Sie erwähnten bereits, wie diffus die Symptome nach einer COVID-19-Infektion sein können. Wie genau läuft die Diagnostik ab, um andere Ursachen auszuschließen?
Zunächst schauen wir, ob es eine manifeste Organschädigung gibt und diese auf eine COVID-Infektion zurückgeführt werden kann. In der Neurologie untersuchen wir etwa, ob die Person einen Schlaganfall hatte. Denn es ist bekannt, dass man mit COVID in der Akutphase der Erkrankung ein höheres Risiko dafür hat. Auch Asthma oder eine Herzmuskelentzündung sind mögliche COVID-Folgeerkrankungen. Meist ist die Organdiagnostik aber unauffällig. Dann prüfen wir, ob es kognitive Einschränkungen wie Konzentrationsschwierigkeiten oder Wortfindungsstörungen gibt. Um diese nachzuweisen, sind neuropsychologische Untersuchungen ganz wichtig. Hier stehen uns verschiedene Tests zur Verfügung, die unter anderem auch nachweisen können, ob jemand Beschwerden nur vortäuscht.
Das Post-COVID-Programm umfasst nicht nur den Post-COVID-Check, sondern auch weitere Schritte, etwa eine Beratung beziehungsweise eine Sprechstunde. Worauf fokussieren diese Angebote?
Der Post-COVID-Check umfasst die besagte umfassende Diagnostik, die stationär und über mehrere Tage durchgeführt wird. Vorab erfolgt oft eine Beratung, die sich primär an die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Unfallsversicherungsträger wendet. Hier prüfen wir die bisherigen Befunde der Versicherten und beraten zu möglichen weiteren Schritten. Teilweise ist das Aktenstudium mit Sichtung der Vorbefunde bereits ausreichend, um passende Reha-Maßnahmen zu empfehlen.
Welche Reha-Maßnahmen sind bei Post-COVID üblich?
Die Art der Rehabilitation richtet sich nach den jeweiligen Gesundheitsstörungen. Mal ist vor allem die allgemeine Belastbarkeit und Ausdauer herabgesetzt. Dann braucht es ein allgemeines Trainingsprogramm, um diese wieder herzustellen. Dieses Training wird im Rahmen einer Komplexen Stationären Rehabilitation (KSR) umgesetzt. Haben Patientinnen und Patienten kognitive Beeinträchtigungen und können sich beispielsweise nicht mehr konzentrieren, braucht es eine neurologische Reha. Dort wird dann etwa Hirnleistungstraining durchgeführt. Hat jemand eine schwere Lungenentzündung oder Luftprobleme, ist eine pneumologische Reha das Richtige. Da es bisher keine ursächliche Therapie bei Post-COVID gibt, konzentriert sich die Behandlung auf die jeweilige Symptomatik.
Kommen bei der Behandlung auch Medikamente zum Einsatz?
Ob Post-COVID-Beschwerden medikamentös behandelt werden, hängt von der Art der Beschwerden ab. Kognitive Beeinträchtigungen werden z.B. nur sehr selten medikamentös behandelt. Hat aber jemand Asthmabeschwerden, werden diese auch so behandelt wie jede andere Asthmaerkrankung ohne COVID-Bezug. Das gleiche gilt etwa für Depressionen, die unter anderem mit Antidepressiva behandelt werden können.
Psychologische Untersuchungen sind ebenfalls in das Post-COVID-Programm integriert. Wie häufig sind psychische Erkrankungen infolge einer COVID-Infektion?
Bei uns werden alle Patientinnen und Patienten, die den Post-COVID-Check durchlaufen, psychologisch untersucht. Auch hier gilt es zu differenzieren: Gab es bereits vor der Infektion eine psychische Störung? Wenn ja, hat sie sich eventuell verschlimmert? Oder besteht eine Anpassungsstörung mit reaktiver Depression, die als Folge der Post-COVID-Beschwerden anzusehen ist? Attestiert eine psychologische Fachperson den Zusammenhang mit COVID, kann dies ein Grund für eine anschließende Psychotherapie sein. Natürlich kann eine Psychotherapie auch ohne Zusammenhang mit der berufsbedingten COVID-Infektion angeraten sein. Die würde dann aber nicht über die gesetzliche Unfallversicherung laufen, sondern über die Krankenkasse.
Wie wichtig ist der kontinuierliche fachärztliche Austausch mit dem Reha-Management, um Beschäftigte mit Post-COVID optimal zu betreuen?
Das ist ganz wichtig, auch bei der Nachsorge des Post-COVID-Programms. Idealerweise kommt die Reha-Managerin oder der Reha-Manager auch zum ärztlichen Abschlussgespräch dazu. Dann können wir gemeinsam mit den Versicherten die Ergebnisse und die künftigen Maßnahmen besprechen.
Wie hoch stehen die Chancen, dass Post-COVID-Beschwerden wieder verschwinden?
Während einer gezielten symptomatischen Behandlung sollten die Beschwerden nach und nach besser werden. Bei Betroffenen, bei denen die Symptome immer schlimmer werden, muss man genau draufschauen: Ist das wirklich Post-COVID oder spielen hier noch andere Faktoren mit rein?
Sind somit auch die Chancen entsprechend hoch, dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht von Dauer ist und Betroffene zurück in den Beruf können?
Auch hier sind die Fälle sehr heterogen. Ziel ist immer, eine Rückkehr der Versicherten in den Job zu schaffen. Oft gelingt das bei Post-COVID über eine stufenweise Wiedereingliederung, bei der man die Belastung und die Arbeitszeiten nach und nach steigert.
Mit dem Blick auf die Post-COVID-Forschung: Wo standen Sie im Jahr 2021 und wo stehen Sie heute?
Es gibt nach wie vor viele Fragezeichen. Ich glaube, in Hinblick auf die Abläufe hat sich eine gewisse Routine entwickelt. Was sich aber nicht geändert hat, ist, dass wir bei der Therapie weiterhin einen symptomorientieren Ansatz verfolgen. Zum Thema Kausaltherapie, also eine gezielte Behandlung der Krankheitsursache, gibt es weiterhin keine wissenschaftlich zweifelsfrei belegten Therapieverfahren. In den Medien wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, etwa Blutwäsche oder Druckkammern. Auch gab es Studien zu verschiedenen Medikamenten. Aber bisher gibt es keinen überzeugenden Ansatz, der COVID-Beschwerden ursächlich behandeln kann.