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Mit der Gefährdungsbeurteilung zum 360-Grad-Blick für sichere Shows
Anett Kühn ist Sicherheitsbeauftragte am Friedrichstadt-Palast Berlin. Sie zeigt, wie das Theater die Gefährdungsbeurteilung für seine spektakulären Shows durchführt. © Nikolaus Brade

Arbeitssicherheit : Mit der Gefährdungsbeurteilung zum 360-Grad-Blick für sichere Shows

Für seine Shows stellt der Friedrichstadt-Palast Berlin höchste Anforderungen an den Arbeitsschutz. Eine gute Gefährdungsbeurteilung ist dafür zentral.

An diesem Vormittag ist es ruhig in dem ­riesigen Saal. Der Blick schweift über die leeren Zuschauerreihen, in denen 1.899 Menschen Platz haben. Die Requisiten verstecken sich noch hinter den ­Kulissen. Nur der „Showbandberg“, eine fahrbare 30-Tonnen-Installation mit integriertem Orchester­graben, ruht bereits wie ein schlafender ­Riese auf der größten Theaterbühne der Welt.

Wenn die abendliche „­Arise Grand Show“ im Friedrichstadt-­Palast Berlin beginnt, wird das Ensemble auf ihm tanzen, Artistinnen und Artisten werden am Trapez über die Bühne fliegen – und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird dabei niemand auf ­einer rutschigen Stufe stürzen oder im Flug gegen einen Scheinwerfer stoßen. Denn Risiken wie diese wurden ­maximal minimiert – mithilfe der Gefährdungsbeurteilung.

Damit Ensemble und Artistik sicher vor und auf dem Showbandberg tanzen können, werden vorab alle Risiken ermittelt. © Nady El-Tounsy

Gefährdungsbeurteilung für jede Show

Der Friedrichstadt-Palast nutzt die Gefährdungsbeurteilung akribisch, um möglichst alle Gefährdungen für alle Beschäftigten zu ermitteln und bei Bedarf Schutzmaßnahmen abzuleiten. Ein Fokus liegt dabei auf der Bühne: „Hier führen wir die Gefährdungsbeurteilung showbezogen durch“, sagt Joseph Jung. Er ist Bühnenmeister und seit vier ­Jahren im Palast. „Die Bühne gilt als ein Arbeitsbereich. Andere Bereiche wie die Verwaltung beurteilen ihre Gefährdungen eigenständig.“

Der Friedrichstadt-Palast Berlin denkt im Arbeitsschutz bereichsübergreifend

Das traditionsreiche Berliner Revue-Theater fordert sich in Sachen Arbeitsschutz immer wieder selbst heraus. Denn je spektakulärer die Showelemente, desto gewissenhafter müssen neue Gefahren erkannt und gebannt werden. „Ein 360-Grad-Blick ist unerlässlich“, sagt der Technische Direktor Thomas Herda.

„Es können alle maschinentechnischen Bewegungen sicher organisiert sein, aber dann verletzt sich eventuell eine Tänzerin bei einem Sturz, weil der ­Silikonanteil im Kostüm auf dem Bühnenboden eine rutschige Ablagerung bildet – nur durch ein kurzes Sitzen auf dem Boden während der Choreografie. Bei pyro­technischen ­Effekten wiederum dürfen wir nicht den Arbeitsbereich zehn Meter darüber vergessen, wo Technik und Artistik im Rauch der Pyro stehen. Wir schauen uns alles äußerst genau an und arbeiten bereichsübergreifend, ohne den künstlerischen Prozess oder innovative Darstellungen zu hemmen.“

Bei der Gefährdungsbeurteilung arbeiten interne und externe Fachleute zusammen

Für eine so ­große Grand Show wie „­Arise“ werden deswegen beispielsweise die Artistik oder die Spezial­effekte gesondert und übergreifend betrachtet. Dass am Ende alle Maßnahmen ineinandergreifen, wie von Herda beschrieben, ist das Ergebnis umfassender ­interner und externer Expertise und der ­Zusammenarbeit aller Gewerke. „Die Verantwortung für die Sicherheit auf der Bühne liegt bei der technischen Direktion. Aber auch die konstruierenden Gewerke, die Kreativdirektion, der Stuntkoordinator und nicht zuletzt die Darstellenden liefern Input“, erklärt Jung. Er selbst verantwortet die Dokumentation.

Sicherheitsbeauftragte Anett Kühn und Bühnenmeister Joseph Jung auf den Showtreppen am Rand der Bühne, auf denen am Abend das Ensemble tanzen wird. © Nikolaus Brade

Trapez, Showtreppe und blendende Schweinwerfer

Sehr wichtig für eine sichere Show ist die Auswahl des Personals, betont der Bühnenmeister: „Wir müssen bei jeder Nummer abwägen: Kann sie vom Ballettensemble durchgeführt werden? Und wenn ja, von wem?“ Ein beherrschbares Risiko für das Ensemble ist es etwa, auf den Treppen des Showbandberges zu tanzen.

Auch wenn diese ohne den normalerweise erforderlichen Handlauf konstruiert wurden. Die sich daraus ergebenden Risiken sind Teil der Unterweisung. Mit dem Trapez hoch über der Bühne fliegen ist etwas anderes. Trotz technischer, organisatorischer und personenbezogener Schutzmaßnahmen wäre das Risiko für das Ballettensemble zu hoch.

„Deswegen haben wir externe, speziell ausgebildete Artistinnen und Artisten engagiert. Sie sind für die Nummer und die Gefährdungsbeurteilung weitestgehend selbst verantwortlich“, sagt Jung. Auf ihre Hinweise – etwa blendende Scheinwerfer, die beim Act stören – durch technische Maßnahmen zu reagieren, ist wiederum Aufgabe der technischen Gewerke.

Checkliste

Gefährdungsfaktoren kennen und vorbeugen (Beispiele)

  • Mechanische Gefährdungen: Kollision mit Arbeitsmitteln, Stolpern, Stürzen
  • Elektrische Gefährdungen: direkter Kontakt mit Elektrizität
  • Gefahrstoffe: Hautkontakt oder Brandrisiko
  • Biologische Arbeitsstoffe: Hautkontakt oder Einatmen
  • Thermische Gefährdungen: extrem heiße Flächen, heißes Wasser oder Fett
  • Physikalische Einwirkungen: Lärm, Vibrationen, Strahlung
  • Arbeitsumgebung: Hitze oder Platzmangel
  • Physische Faktoren: jede Form erhöhter körper­licher Belastung, Heben, Tragen, Zwangshaltungen
  • Psychische Belastung: durch hohe Arbeitsanforderungen oder Zeitdruck

Beratungen und Schulungen nutzen

Präventiv handeln, damit es gar nicht erst zu Unfällen oder Über­lastungen kommt: Genau das ist der Sinn der Gefährdungsbeurteilung. „Hier agiert der Palast vorbildlich“, sagt Katy Völker von der Unfallkasse Berlin: „Gibt es vor einer neuen Show Unsicherheiten, melden sich die Verantwortlichen proaktiv bei mir und lassen sich beraten.“

Als Aufsichtsperson berät Völker die Mitgliedsunternehmen nicht nur, sie ist auch für die Überwachung ­des Arbeitsschutzes zuständig. Mit dem Palast arbeitet sie schon ­viele Jahre zusammen und ist vor ­jeder neuen großen Show ­mindestens ­einmal vor Ort. „Bei so innovativer Technik und Artistik macht es Sinn, dass ich mir die entsprechenden Dokumente der Gefährdungsbeurteilung anschaue. Dabei können alle Beteiligten von­einander lernen.“

Gut zu wissen

Die sieben Schritte. der Gefährdungsbeurteilung

  1. Vorbereiten: Arbeitsbereiche und Tätig­keiten festlegen; rechtliche Informationen beschaffen
  2. Gefährdungen ermitteln: etwa durch Begehungen, Risikoanalysen, Umfragen; Basis sind die Gefährdungsfaktoren
  3. Gefährdungen beurteilen: Rechtslage, Schadensausmaß und -wahrscheinlichkeit prüfen
  4. Maßnahmen festlegen: Ziel: Gefährdungen vermeiden oder minimieren nach dem STOP-Prinzip (Substitution vor technischen vor organisatorischen vor personenbezogenen Schutzmaßnahmen)
  5. Maßnahmen umsetzen: Verantwortlichkeiten und Fristen festlegen
  6. Wirksamkeit prüfen zum Beispiel durch Beobachtung, Messung oder Befragung. Wichtig: Manche Maßnahmen wirken erst langfristig.
  7. Ergebnisse dokumentieren: Ergebnisse, Maßnahmen und Prüfungen müssen schriftlich dokumentiert sein. Dann beginnt der Kreislauf wieder mit Schritt eins.

Die Schritte der Gefährdungsbeurteilung erklärt umfassend eine Schrift der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).

Handlungshilfen unterstützen bei der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung

Beratungen und Schulungen durch Aufsichtspersonen sind nur eine mögliche Unterstützung. Die Unfallkassen und Berufs­ge­nossenschaften bieten ihren Mitgliedsunternehmen auch zahlreiche branchenspezifische Handlungshilfen für die Erstellung der Gefährdungsbeurteilung. „Grundsätzlich haben Unternehmen Handlungsspielraum bei den Maßnahmen und der Dokumentation“, sagt ­Völker. Die Dokumentation kann theoretisch handschriftlich oder mithilfe spezieller Software erfolgen. Völker empfiehlt eine Tabelle, das sei am übersichtlichsten.

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Zuständigkeiten bei der Gefährdungsbeurteilung legt der Friedrichstadt-Palast Berlin individuell fest

Auch die Frage, wie umfangreich die Dokumentation sein sollte, lässt sich nicht pauschal beantworten. „In der Regel werden es mehr Dokumente, wenn es viele unterschiedliche Arbeitsbereiche gibt“, sagt Völker. „Entscheidend ist, dass alle Tätigkeiten, Arbeitsmittel und Personen am Ende erfasst sind und die ­Betriebe den Überblick behalten.“

Auch die Zuständigkeiten können ­variieren. In der Verantwortung, dass die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und aktualisiert wird, sind immer die Arbeitgebenden. Meist delegieren sie das Thema an die Führungskräfte der jeweiligen Abteilungen. Diese wiederum lassen sich zum Beispiel von Fachpersonal, der Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsärztin oder dem Betriebsarzt unterstützen. Der Friedrichstadt-Palast hat diese ­Positionen extern besetzt.

Anett Kühn prüft im Spritzraum die Kennzeichnung der Farbtöpfe. Durch ihre langjährige Arbeitserfahrung im Palast erkennt sie mögliche Risiken in fast allen Abteilungen. © Nikolaus Brade

Sicherheitsbeauftragte bei der Gefährdungsbeurteilung einbeziehen

Auch Sicherheitsbeauftragte ­können einen wichtigen Beitrag leisten. So wie Anett Kühn. Sie ist Referentin für Personalentwicklung und eine von acht Sicherheitsbeauftragten im Haus. Ihr Arbeitsbereich liegt hinter den Kulissen. Schnellen Schrittes läuft sie durch die langen Gänge mit den vielen Türen, hinter denen Proberäume, Werkstätten und die ­Büros der insgesamt mehr als 300 Mitarbeitenden liegen.

Kühn besucht den Schuhmachermeister im sogenannten Spritzraum: Hier werden Tanzschuhe lackiert. Mit prüfendem Blick nimmt die Sicherheitsbeauftragte eine Farbflasche aus dem ­Regal und schaut nach der korrekten Kennzeichnung. Alles in Ordnung. Im hinteren Teil des Raumes steht ein Gefahrstoffschrank, in dem alle Farben, die Gefahrstoffe enthalten, gelagert werden. „Wenn wir neue Farben einsetzen, muss unser Gefahrstoffkataster und somit auch die Gefährdungsbeurteilung aktualisiert werden. Hier unterstützt die Sicherheitsfachkraft“, sagt Kühn.

„Wichtig für meine ­Rolle als Sicherheitsbeauftragte ist es, im Gespräch mit dem Kollegium zu ­bleiben, nachzufragen. Etwa, ob eine Unterweisung zum neuen Gefahrstoffschrank durchgeführt wurde oder ob die Beschäftigten ausreichend Pausen machen.“ Vieles, was Kühn beim Gang durch den Friedrichstadt-Palast entdeckt – mal ist es eine Falte im Teppich, mal ein störendes Kabel –, kann direkt beseitigt werden. Bei größeren Mängeln muss unter Umständen die Gefährdungsbeurteilung aktualisiert werden. „Das gebe ich an die Führungskraft weiter oder bringe es im Arbeitsschutzausschuss an.“

Der Gefahrstoffschrank im sogenannten Spritzraum wurde auch in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt. © Nikolaus Brade

Psychische Belastung mit Gefährdungsbeurteilung erfassen

Dass Kühn beeindruckend viel Fach­wissen mitbringt, liegt an ihren beruflichen Stationen im Palast: Nicht nur hat sie hier früher selbst auf der Bühne getanzt. Sie war auch zehn Jahre lang Vorsitzende des Arbeitsschutzausschusses und ist seit 2015 für das Betriebliche Gesundheitsmanagement zuständig. Hier kann sie ihre Vorkenntnisse gut einbringen und ist in dieser Funk­tion in einen Aspekt der Gefährdungsbeurteilung besonders involviert: die psychische Belastung. Ein Thema, das im Friedrichstadt-Palast abteilungsübergreifend einen hohen Stellenwert hat. „Wir haben lange nach passenden Verfahren zur Ermittlung psychischer Belastung gesucht“, sagt Kühn.

Der Friedrichstadt-Palast Berlin lebt eine Kultur offener Kommunikation

2019 führte erstmals eine ­externe Coachin Workshops mit allen ­Ab­teilungen durch, um im direkten Gespräch beispielsweise von Leistungsdruck oder internen Spannungen zu erfahren. Führungskräfte waren nicht dabei. „Denen wurden die anonymisierten Protokolle vorgelegt. Anhand der Ergebnisse konnten sie für ihre Abteilungen Maßnahmen ableiten, zum Beispiel Trainings zu Kommunika­tion oder Konfliktbewältigung“, erzählt Kühn. Ein Vorgehen, das auch aus arbeitspsychologischer Sicht empfehlenswert ist.

Grundsätzlich sei direkte, offene Kommunikation entscheidend für eine gute Betriebskultur. Aber auch digitale Tools können im Alltag unterstützen: So haben alle Beschäftigten Zugriff auf eine Plattform für mentale Gesundheit, auf der Kühn beispielsweise auf Workshops hinweist oder Infomaterial anbietet.

Die Gefährdungsbeurteilung als fortlaufender Prozess

Zurück zu Bühnenmeister Joseph Jung. Zwar läuft „Arise“ noch bis zum Sommer 2023, aber er ist schon längst mit der Gefährdungsbeurteilung der nächsten Grand Show beschäftigt. „Etwa ein Jahr lang ist das reine Theorie. Erst beim Bühnenaufbau und bei den Proben merken wir, ob die konzipierten Maßnahmen greifen oder sich neue Gefährdungen ergeben. Es ist ein fortlaufender Prozess. Bis zum letzten Tag jeder Show.“