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Aus Beinahe-Unfällen lernen
Das Stolpern ist der Klassiker unter den Beinahe-Unfällen, bei denen Verletzungen meist gerade noch vermieden werden können. © Getty Images/Fertnig

Arbeitssicherheit : Aus Beinahe-Unfällen lernen

Im Berufsalltag kommt es immer wieder zu Beinahe-Unfällen. Um künftigen Gefahren vorzubeugen, sollten Sicherheitsbeauftragte deren Abläufe dokumentieren und bewerten.

Es ist schnell passiert: Wer mit viel Material in der Hand auf eine Leiter steigt, konzentriert sich zu wenig auf die Stufen, rutscht ab und kann sich noch gerade so abfangen. In den allermeisten Fällen passiert Betroffenen dabei nichts – und die Situation wird als sogenannter Beinahe-Unfall verbucht.

Beinahe-Unfälle aufarbeiten, um daraus zu lernen

Wenn es nicht zufällig Kolleginnen und Kollegen mitbekommen haben, bleiben diese Vorkommnisse meist unbemerkt. Denn die Person, die auf der Leiter abgerutscht ist, erzählt es von sich aus meist nicht weiter.

Psychologisch verständlich: „Wer redet schon gern über seine Fehler?“, sagt Gerhard Kuntzemann, Leiter des Sachgebiets Sicherheitsbeauftragte der DGUV. Doch für die Arbeitssicherheit im Betrieb ist es ein Verlust, wenn Beinahe-Unfälle nicht regis­triert werden. Denn nur wenn der Hergang bekannt ist, kann unter­sucht werden, ob und wie sich solche Ereig­nisse künftig vermeiden lassen.

Unfallpyramide: Schwere Unfälle verhindern

Das demonstriert auch die Unfallpyramide, die auf Erkenntnissen der Unfallforschung basiert. Den breiten Sockel bilden hier die ­Beinahe-Unfälle. Darauf folgen die mit leichten Verletzungen verbundenen Vorkommnisse und die schweren Unfälle. Die Spitze der Pyramide steht für die sehr seltenen tödlichen Unfälle. Setzt man an der Basis, bei den Ursachen für Beinahe-Unfälle, an, so besteht die Chance, Schlimmeres zu verhindern.

Gelingt es, die Zahl der Beinahe-Unfälle zu verringern, sinkt auch die Zahl schwerer Unfälle © Unfallpyramide nach Frank E. Bird

Beinahe-Unfälle fördern Sicherheitslücken zutage

Sicherheitsbeauftragten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. „Oft regis­trieren sie als erste und manchmal auch als einzige Person Beinahe-­Unfälle, weil sie zufällig anwesend sind oder davon berichtet bekommen“, so Kuntzemann. Da sie sich mit Arbeitssicherheit auskennen, sind sie in der Lage einzuschätzen, was in der Situation wirklich hätte passieren können – und ob es sich um einen Einzelfall oder etwas Grundlegendes handelt.

Bei der Bewertung ist entscheidend, ob es zu dem ­Vorkommnis kam, weil jemand kurz nicht aufgepasst hat oder ob es an den Bedingungen lag – weil beispielsweise Hindernisse auf dem Boden lagen, über die jemand gestolpert ist. In so einem Fall reicht es, die Hindernisse zu beseitigen. Es sei denn, an dieser Stelle wird immer wieder etwas zwischengelagert. Dann könnte es sich um ein grundlegendes Problem handeln, das es zu lösen gilt.

Checkliste

Kolleginnen und Kollegen zur Meldung ermuntern:

  • Einfach: Meldeverfahren simpel halten und für alle zugänglich machen, zum Beispiel durch ein Formular als ­Meldehilfe.
  • Sanktionsfrei: Wer einen Beinahe-Unfall meldet, wird nicht abgestraft, wenn ein Fehler die Ursache war.
  • Vertraulich: Wenn Beinahe-Unfälle besprochen werden, nicht nennen, wer ihn gemeldet oder auf Fehler hinge­wiesen hat.
  • Effektiv: Die Berichte rasch sichten, Empfehlungen umsetzen und zurückmelden, was passiert ist.
  • Prozessoptimiert: Bei Empfehlungen nicht nur auf Verhalten ­konzentrieren, sondern auf Prozesse, Produkte und Systeme beziehen.

Eine Meldehilfe von Beinahe-Unfällen stellt die DGUV online zur Verfügung.

Pannen offen besprechen, auch im Arbeitsschutzausschuss

Damit Sicherheitsbeauftragte immer informiert bleiben, sollten sie ihre Kolleginnen und Kollegen ermuntern, von Beinahe-Unfällen zu berichten. Außerdem braucht es eine ­positive Fehlerkultur im Unternehmen – und die Bereitschaft, aus Fehlern zu ­lernen, damit Beinahe-Unfälle nicht verschwiegen werden, weil niemand einen Fehler zugeben möchte.

Kuntzemann rät Sicherheitsbeauftragten darüber hinaus, Hinweise auf Beinahe-Unfälle im Betrieb zu sammeln und sie im Arbeitsschutzausschuss zu thematisieren. „Dann wird die Relevanz klarer und alle mit Arbeitsschutz befassten Personen im Betrieb sind im Bilde.“ So kann das Gremium beispielsweise nach Wegen suchen, um die Zahl der Leitereinsätze im Unternehmen zu verringern. Wer nicht klettert, kann auch nicht stürzen.