
Arbeitssicherheit : Maschinen sicher warten, rüsten und reinigen
In der großen Produktionshalle bei Freudenberg Sealing Technologies in Reichelsheim dröhnt und rattert es, Maschinen laufen, es riecht nach Kunststoff. Sechs hellgraue, etwa fünf Meter lange computergesteuerte Drehmaschinen stehen nebeneinander, an einer ist die Schutztür am vorderen Maschinenende aufgeschoben. „Das geht nur, weil die Maschine stillsteht. Nur dann wird die Schutztür von der Steuerung entriegelt“, erklärt Felix Halter, als Health-, Safety- und Environment-Manager (HSE-Manager) in beratender Funktion in Arbeitssicherheitsfragen tätig. Er hält seine Hand ins Innere der Maschine. „Zu Demonstrationszwecken!“, betont er. „Niemand hier greift ungeschützt in die Maschine.“
Aus gutem Grund. Halters Arm passt nur gerade so zwischen die zwei sich gegenüberliegenden Drehspindeln. Drum herum ein kompliziertes System aus Schläuchen, Gelenken, Achsen – und auf jeder Seite Werkzeugträger mit linear oder kreisförmig auf einem Revolver angebrachten Klingen. Eine unbedachte Bewegung und Halter zöge sich eine tiefe Schnittverletzung zu. Das war in der Vergangenheit jährlich etwa 20 Kollegen und Kolleginnen passiert, wenn sie die Maschinen reinigten oder für ihre Schicht einrichteten.

Verletzungen innovativ vermeiden
Mithilfe der Messer fertigen die Maschinen bis zu zehn Millionen Dichtungen im Jahr aus PTFE-Halbzeug (Polytetrafluorethylen), die dann in der Automobilindustrie etwa in Einspritzsystemen verbaut werden. „Öl dient in der Maschine als Achsenschmierstoff“, erklärt Halter, „daran bleiben winzige Späne haften, die bei der Produktion entstehen. Daher müssen Maschinenelemente wie die Klingen regelmäßig von den Mitarbeitenden selbst gereinigt werden – aber natürlich ohne Verletzungsgefahr!“ Er greift an die Außenseite der Maschine, nimmt ein rotes, handflächengroßes, an Tetris-Steine erinnerndes Kunststoffteil von einem Haken und setzt es auf eine der Klingen.
Diese Abdeckungen wurden passgenau für jedes Messer der sechs Maschinen konzipiert und schützen bei Wartungs- oder Reinigungsarbeiten gegen Schnittverletzungen. Entwickelt haben sie Halter und seine Kollegen Sergej Schmidt, Uwe Franzmathes und Business-Unit-Leiter Goran Odobasic. Das Team kann stolz berichten, dass sich seit der Einführung der Abdeckung niemand mehr an den Klingen verletzt hat. Für diese sicherheitstechnische Eigeninitiative hat der Betrieb 2024 den Preis „Arbeitsschutz GEWINNT!“ der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) gewonnen.
Unfälle bei der Instandhaltung
Beim Betreiben von Maschinen gilt es, nicht nur während der Nutzung verschiedene Sicherheitsaspekte zu beachten. Auch und gerade bei Instandhaltungsarbeiten wie Wartung und Reinigung geschehen schwere Arbeitsunfälle, wie die statistische Auswertung „Arbeitsunfallgeschehen 2023“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) belegt. Dafür wurden zum ersten Mal die Arbeitsunfälle spezifischer betrachtet und Rüstungs-, Instandhaltungs- und Reinigungsarbeiten einzeln als Unfallursache berücksichtigt. Es zeigt sich: Unfälle bei diesen Tätigkeiten kamen zwar seltener vor, hatten aber schwerere Folgen als Unfälle während des laufenden Betriebs. Obligatorische Präventionsmaßnahmen für Maschinensicherheit – auch explizit bei Instandhaltungsmaßnahmen – sind in verschiedenen Technischen Regeln festgehalten. „Arbeitgebende sind verantwortlich, dass alle verwendeten Maschinen den für sie geltenden Rechtsvorschriften über Arbeitssicherheit entsprechen“, sagt Dirk Sticher, stellvertretender Leiter der Präventionsabteilung Technische Sicherheit der BG RCI. Gemeint ist die Maschinenrichtlinie für neue Maschinen, die seit 1995 eine CE-Kennzeichnung für Sicherheit bei sachgemäßer Nutzung haben müssen, sowie die Betriebssicherheitsverordnung für Gebrauchtmaschinen.
„Zudem muss eine Maschine im Laufe der Nutzung anhand der Gefährdungsbeurteilung auf den Stand der Technik überprüft und gegebenenfalls nachgerüstet werden“, erinnert der Experte. Doch auch dann können Maschinen noch Gefahren bergen. Wenn etwa Werkzeuge eingesetzt werden, die nicht zur Maschine selbst gehören. Wie die Klingen bei Freudenberg.
Prävention bei der Maschinen-Instandhaltung
Zur Instandhaltung gehört: Wartung (samt Reinigung), Inspektion und Instandsetzung/Reparatur.
Instandhaltung macht aus, dass sie:
- oft nur ohne trennende Schutzeinrichtungen möglich ist
- oft auf engem Raum geschieht, weshalb Maßnahmen eventuell nur von einer Einzelperson ausführbar sind (obwohl mehrere Personen erforderlich)
- gegebenenfalls der Kenntnis unterschiedlicher Fachrichtungen bedarf (etwa Elektrotechnik und Mechanik)
- oft an Fremdfirmen mit Spezialkenntnis vergeben wird. Deren Beschäftigte sind sicher in Betriebsabläufe zu integrieren
Vor den Maßnahmen:
- Art, Umfang und Ablauf der Instandhaltungsmaßnahmen festlegen
- Mögliche Gefährdungen ermitteln und beurteilen (Gefährdungsbeurteilung)
- Erforderliche Schutzmaßnahmen definieren
- Bei Vergabe an Fremdfirmen: Sicherheitsanforderungen und Qualifikation des Personals festlegen
Gefährdungsbeurteilung – Risiken ermitteln bei:
- dem instand zu haltenden Arbeitsmittel (etwa frei liegende Maschinenteile, angrenzende andere Maschine, Arbeitsstoffe)
- den genutzten Arbeitsmitteln selbst wie etwa Handwerkzeugen
- Gegebenheiten der Arbeitsstelle (kaum Bewegungsfreiheit, Absturzgefahr)
- der Arbeitsorganisation (findet während des laufenden Betriebs statt, Termin- und Zeitdruck)
Technische Regel für Betriebssicherheit – TRBS 1112 Instandhaltung.
„Natürlich gab es auch vorher Schutzmaßnahmen“, bestätigt Uwe Franzmathes aus dem Projektteam. „Magnetische Abdeckungen etwa, deren Anbringen aber leicht zu Beschädigungen beziehungsweise zum Abbruch der dünnen Klinge führte. Auch Schutzhandschuhe der höchsten Schnittschutzklasse boten keinen ausreichenden Schutz vor Durchstich, schützten nicht bis zum Ellbogen und schränkten die Feinmotorik der Mitarbeitenden zu stark ein.“

Herausforderung Praxistauglichkeit
Damit spricht der Prozesstechniker eine Herausforderung der Maßnahmen zur Maschinensicherheit an: „Ein unzureichendes oder unpraktisches Schutzkonzept kann dazu führen, dass Mitarbeitende die Maßnahmen nicht anwenden, oder verleitet dazu, Maschinen zu verändern und zu manipulieren“, weiß Sticher von der BG RCI. Das kann beim Ausführen der Tätigkeit gefährlich werden und bedarf einer Neubewertung der Gefahrensituation und eines Nachrüstens im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung. Das bleibt aber oft aus und führt jährlich zu bis zu 10.000 schweren Arbeitsunfällen.
Halter betont: „Deshalb war für uns eine einfach anwendbare Schutzeinrichtung so wichtig.“ Er und seine Teamkollegen haben die Kunststoffkappen so konzipiert, dass sie nicht nur unkompliziert anwendbar, sondern auch kostengünstig und recycelbar sind und im firmeneigenen 3-D-Drucker hergestellt werden können. „Es sollte nicht der Mensch ans System angepasst werden, sondern das System an den Menschen. Dann wenden Mitarbeitende die Maßnahmen auch an.“
Manipulation vermeiden
Nicht immer kann durch die Maschinenkonstruktion verhindert werden, dass von der Maschine Gefahr ausgeht. In dem Fall wirken Schutzeinrichtungen und Sicherheitsvorkehrungen Gefahren entgegen.
Diese werden häufig für Rüstungs- und Instandhaltungsmaßnahmen sowie für die Störungsbeseitigung manipuliert, weil sie Wartungs- oder Arbeitsabläufe behindern, aus Zeitdruck oder wegen fehlendem Risikobewusstsein.
Das hilft, Manipulation zu verhindern:
- Nur qualifiziertes Personal die Maschine bedienen, einrichten oder instand halten lassen.
- Beschäftigte zum Betrieb der Maschine unterweisen, klare Sicherheitsregeln aufstellen und Konsequenzen bei Nichteinhaltung mitteilen.
- Als Vorgesetzte regelmäßig die Einhaltung der Maßnahmen überprüfen.
- Sicherheitsbeauftragte als Ansprechpersonen bekannt machen, wenn Beschäftigte ihre Tätigkeiten nicht sicher ausführen können oder Maßnahmen behindern.
- Neue Maschinen sollten sicherer und nutzungsfreundlicher zu bedienen sein als die alten und technisch schwieriger zu manipulieren. Auch die sinnvolle Platzierung unterstützt beim Warten, Reparieren und Reinigen.
Checkliste der DGUV: Die Manipulation von Schutzeinrichtungen verhindern
Um herauszufinden, wo bei täglichen Arbeiten das System angepasst werden muss und wo es eher behindert, braucht es Austausch. Das weiß auch Thorsten Vonderheid, einer der Sicherheitsbeauftragten im Produktionsbereich. Er wird von Mitarbeitenden auf alle möglichen Risiken hingewiesen. „Stolperfallen im Bodenbelag oder scharfkantige Maschinenteile – ich nehme diverse Hinweise mit in das monatliche Sicherheitskurzgespräch.“ Dort besprechen Mitarbeitende, Sicherheitsbeauftragte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Beschäftigte, die Maschinen einrichten und Schichten führen, wie mit wahrgenommenen Risiken und Beinaheunfällen umzugehen ist. Denn von hydraulischen Pressen mit bis zu 300 Tonnen Druckkraft über Stickstoff, Aerosole bis zu Stäuben, Lasern und Gabelstaplern: In der Produktionshalle gibt es diverse mögliche Risiken. Die Verantwortlichen für Arbeitssicherheit müssen diese kennen, bewerten und verringern und sind dafür auf die Erfahrungswerte der Mitarbeitenden angewiesen.

Austausch auf vielen Wegen
Neben regelmäßigen Sicherheitskurzgesprächen sowie zwölf Sicherheitsrundgängen jährlich, die von den Sicherheitsverantwortlichen in diesem Betriebsbereich durchgeführt werden, arbeitet der Betrieb außerdem mit der selbst entwickelten App „FST Care App“. Dafür liegen in der Produktionshalle diverse Tablets aus, über die Mitarbeitende jederzeit und ganz akut Belange einreichen können. „Tatsächlich wenden sie sich aber lieber persönlich an uns“, sagt HSE-Manager Halter. „Deshalb sind Sicherheitsbeauftragte wie Herr Vonderheid eine wichtige Schnittstelle, um uns Verantwortlichen die Anliegen und Erfahrungen aus dem Team zu vermitteln – aber auch, um etwa neue Sicherheitsregelungen besser im Team zu integrieren. Nur so lässt sich Arbeitsschutz optimieren.“
Anpassen, prüfen, unterweisen
Auch die Abdeckungen konnten nur durch Feedback und kontinuierliche Anpassungen fertiggestellt werden. Anschließend fanden sie Aufnahme in der Betriebsanweisung der Maschine und alle Mitarbeitenden wurden in der Handhabung und im Nutzen unterwiesen, erklärt Odobasic. Experte Sticher bestätigt: „Bei solch kleineren Anwendungsänderungen an Maschinen, die lediglich der Erhöhung des Sicherheitsniveaus dienen, liegt keine sogenannte wesentliche Veränderung der Maschine vor. Dennoch muss danach anhand der Gefährdungsbeurteilung geprüft werden, dass die neue Schutzeinrichtung keine neuen Risiken birgt.“ Auch die Betriebsanweisung muss erneuert werden. Bei Freudenberg wissen dadurch alle, die an den Drehmaschinen arbeiten, wie sie die Kappen sicher, schnell und unkompliziert anwenden. Schnell und unkompliziert – das sind wichtige Anforderungen für die Praktikabilität bei den täglichen Reinigungsarbeiten. Die Kappen erfüllen diese Anforderungen: Keine 30 Sekunden dauert es, sie von ihrem Haken an der Außenwand der Maschinen zu nehmen und sicher auf den Klingen anzubringen.

Sicherheit im Team
Divisionsleiter Ralf Schmid, der allein in Reichelsheim für 600 Mitarbeitende an mehr als 400 Maschinen verantwortlich ist, betrachtet die Handgriffe zufrieden. „Die Sicherheit der Beschäftigten ist das Allerwichtigste. Wir setzen alles daran, das Unfallgeschehen auf null zu senken.“ Für größere Instandhaltungsmaßnahmen ist bei Freudenberg deshalb ein geschultes und extra ausgebildetes Team verantwortlich – etwa für umfassende Maschinenwartungen, Öl- oder Filterwechsel. Für Instandhaltungsarbeiten braucht es gesonderte Gefährdungsbeurteilungen und Betriebsanweisungen, erklärt DGUV-Experte Sticher. Denn abseits vom Regelbetrieb können Gefahren auch explizit durch diese Maßnahmen an der Arbeitsstelle ausgehen, etwa wegen eingeschränkter Bewegungsfreiheit oder durch eingesetzte Hilfs- und Arbeitsmittel.
Klicktipp: Störungen auf der Spur
Instandhaltung und regelmäßige Wartung von Produktionsanlagen ist wichtig. Der Betrieb Multivac zeigt, wie die Aufgaben rund um die Instandhaltung optimiert werden können.
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Produktionshalle aber sind die roten Kunststoffkappen inzwischen nicht mehr wegzudenken. „Sie funktionieren deshalb so gut, weil wir bei der Konzeption an der Quelle des Problems angesetzt haben – und durch den Input von Beteiligten eine Lösung entwickeln konnten, die für alle leicht anwendbar ist“, so Odobasic. Und weil der Effekt so groß ist, wurden ähnliche Schutzkappen inzwischen auch für andere Maschinen mit potenziellem Verletzungsrisiko hergestellt, erzählt die Projektgruppe. So sorgt eine gute Idee vielfältig für mehr Sicherheit.