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„Die Stärken neurodivergenter Menschen sehen“
Miteinander reden – ganz wichtig, wenn neurotypische und neurodivergente Beschäftigte zusammenarbeiten. © Adobe Stock/ BullRun

Gesundheitsschutz : „Die Stärken neurodivergenter Menschen sehen“

Welche Chancen und Herausforderungen haben neurodivergente Beschäftigte? Ein Interview mit dem „BZND Zentrum für Neurodiversität e.V.“.

Expertise bündeln und eine Plattform für Austausch schaffen: Das sind die Kernziele des BZND Zentrum für Neurodiversität e.V. Der Verein vernetzt einerseits neurodivergente Menschen – also eine breitgefächerte Zielgruppe, die Informationen in Gehirn und Nervensystem anders als die Mehrheit der Gesellschaft verarbeitet. Dazu zählen unter anderem Autistinnen und Autisten oder Menschen mit ADHS. Andererseits liefert er Informationen und Beratung zu der Vielzahl an Themen, die für die Zielgruppe relevant sind, von der Wohnungssuche über das Sozialleben bis hin zu den Chancen auf dem Arbeitsmarkt.  Wichtig ist den Vereinsgründerinnen und -gründern aber auch, über Neurodiversität aufzuklären und somit gesellschaftliche Barrieren und Vorurteile abzubauen, erläutern Dr. Judith Rommel, Expertin für Neurodiversität und Wohnraumanforderungen, Dr. Karin Joder, Expertin für Hochbegabung und Hochsensibilität und Mareike Keil, Doktorandin im Themenbereich Neurodivergenz, Künstliche Intelligenz und User Interface Design. Die meisten Vereinsmitglieder sind übrigens selbst neurodivergent.

Neurodiversität ist ein Sammelbegriff und soll die positiven Eigenschaften neurodivergenter Menschen betonen. Wie stehen diese selbst dazu, diesem Begriff zugeordnet zu werden?

Joder: Mein Eindruck ist, dass viele Menschen eine erhebliche Erleichterung erleben, wenn sie erst mal wissen, was mit ihnen los ist. Und dass Neurodivergenz keine Krankheit ist. Das heißt, dass diese Menschen, die sich so anders fühlen, die so anders denken, die so anders kommunizieren, dass sie keine Störung haben, sondern dass das Nervensystem einfach anders funktioniert. Manche Phänomene sind nicht so bekannt und daher besonders vorurteilsbehaftet. Sie werden schnell in Richtung psychische Störung gedrängt werden, Synästhesien zum Beispiel.

Rommel: Neurodiversität bezieht sich ja auf Gruppen von Menschen, in denen mindestens eine Person neurodivergent ist. Manche Menschen können sich mit dem Begriff „neurodivergent“ nicht so gut identifizieren. Sie sagen lieber, dass sie zu einer Neurominderheit gehören. Die Grundidee der Neurodiversitätsbewegung, der Vielfalt des menschlichen Geistes mit Wertschätzung zu begegnen, wird jedoch sehr positiv aufgenommen.

Mareike Keil, Dr. Judith Rommel, Dr. Karin Joder (von links) © BZND Zentrum für Neurodiversität e. V.

Stichwort Vorurteile: Sind negative Zuschreibungen, etwa zu Diagnosen wie ADHS, also vorwiegend gesellschaftlich gemacht?

Keil: Ja und nein. In der Gesellschaft ist es definitiv ein Problem, weil diese immer noch die negativen Eigenschaften in den Fokus stellt, wie Impulsivität bei ADHS oder Meltdowns (Anm: psychischer Ausnahmezustand) bei Autismus. Die extreme Leistungsfähigkeit unter (Zeit-)Druck oder die detaillierten, schnellen Analysen werden meist nicht wahrgenommen – auch weil Kolleginnen und Kollegen Konkurrenz fürchten, da tatsächlich neurodivergente Beschäftigte je nach Aufgabe zwei bis vier Arbeitskräfte „ersetzen“ können, sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Jede Persönlichkeit hat Stärken und Schwächen. Daher sollte man sich auf die Stärken fokussieren – wie bei Neurotypischen auch.

Rommel: Was der Begriff Neurodiversität nicht will, ist verharmlosen. Viele neurodivergente Menschen brauchen eine psychotherapeutische oder medizinische Behandlung. Auch der sogenannte Hyperfokus, in den Autistinnen und Autisten und Menschen mit ADHS gehen und sich dabei intensiv und extrem ausdauernd auf ein Thema konzentrieren können, ist ein Risiko. Etwa, wenn die Person da nicht mehr rauskommt und vergisst zu essen oder in Interaktion zu treten. Grundsätzlich ist wichtig: Keine Stigmatisierung, keine Romantisierung.

Welche Herausforderungen gibt es für neurodivergente Menschen insbesondere in der Arbeitswelt?

Keil: Definitiv die Akzeptanz der Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten. Ich habe von einem Fall erzählt bekommen, da ist jemand mit seiner Hochbegabung offen umgegangen, weil er ehrlich zu den Kollegen sein wollte und auch erklären wollte, warum er immer viel nachfragt, da es kein Anzweifeln von Autorität oder ähnliches ist, sondern schlichtweg Neugier und das Verlangen, alles zu verstehen. Leider haben sie ihn danach aus dem Unternehmen gemobbt. Manche neurodivergente Menschen kommen mit Smalltalk-Meetings nicht zurecht, besonders Menschen im Autismus-Spektrum.

Welche Maßnahmen können denn helfen, um die Akzeptanz zu erhöhen? Und um sichere und gesunde Zusammenarbeit grundsätzlich zu fördern?

Rommel: Die Aufklärungsarbeit ist extrem wichtig. Die Aufklärung über das Phänomen, sei es Autismus oder erhöhte Umweltsensibilität oder Hochbegabung. Diejenigen, die Entscheidungsposition haben, aber auch die Mitarbeitenden brauchen ein Grundwissen zum Thema. Denn es gibt so viele Vorurteile und schnell wird negativ und abwertend über neurodivergente Beschäftigte gesprochen, nach dem Motto „da ist wieder unsere Superschlaue“.

Wichtig ist, die Stärken der Menschen zu sehen. Es muss darüber gesprochen werden, wie Arbeitgebende von neurodivergenten Beschäftigten profitieren und eine neuroinklusive Kultur fördern können. Praktisch ist wichtig, dass die Kommunikation im Betrieb den Bedürfnissen angepasst ist, dass etwa alle die Vorschriften verstehen und wissen, wie sie im Notfall handeln müssen. Auch die zwischenmenschliche Kommunikation, das Verständnis sozialer Spielregeln, sind etwa bei Autistinnen und Autisten anders. Hier kommt es darauf an, flexibel auf die Besonderheiten einzugehen.

Es geht also im Kern darum, individuelle Maßnahmen zu treffen?

Rommel: Ja, individuelle Maßnahmen sind ganz wichtig, denn natürlich ist jede neurodivergente Person anders. Herausfordernd ist auch, dass wir ja Normen haben. Etwa für Grenzwerte von Chemikalien in der Luft. Bei vielen neurodivergenten Menschen ist jedoch die Umweltsensibilität erhöht und sie reagieren viel früher mit Beschwerden wie Ausschlag oder Kratzen im Hals auf bestimme chemische Substanzen. Aber auch Gerüche, Geräusche oder elektromagnetische Felder, zum Beispiel Licht, können schneller zu unangenehmen Körperreaktionen führen. Hier wäre es wichtig, die Normen so anzupassen, dass sie für alle passen.

Ist das in Kleinbetrieben ebenfalls machbar oder vielleicht sogar einfacher?

Rommel: Es kann wunderbar funktionieren. Wir beim BZND e. V. sind auch schon ein sehr gutes Beispiel für eine kleine Gruppe, die zusammenarbeitet und was auf die Reihe kriegt. Ich glaube, der Vorteil von Kleinbetrieben ist auch, dass man sich kennt, dass man auf die individuellen Bedürfnisse leichter eingehen kann und dass jemand so wirklich seinen Platz finden kann. Auch Aufgabenbereiche können oft flexibler angepasst werden.

Joder: Was mir dazu noch einfällt: Es macht auf jeden Fall Sinn, neurodivergente Mitarbeitende miteinzubeziehen. Das heißt, sie mal zu fragen, was er oder sie braucht.

Sollten also auch die neurodivergenten Beschäftigten offen sein für Kommunikation?

Joder: Ein Klient von mir hat sich kürzlich in seinem Unternehmen als hochbegabt geoutet. Zuvor stand lange die Frage im Raum, soll ich oder soll ich nicht. Denn das kann ja auch mit vielen Vorurteilen einhergehen, etwa, dass Arbeitgebende sich unterlegen fühlen, wenn Hochbegabte in ihr Team kommen. Besagter Klient hatte Kommunikationsprobleme mit seinem Chef, weil er ihn immer sehr klar auf Defizite hingewiesen hat, und das hat der Chef als Kritik verstanden. Schlichten konnte am Ende eine Kollegin aus dem HR-Bereich, die Hochbegabte in ihrem Umfeld hat. Sie hat sich dann hochmotiviert für das Thema Hochbegabung stark gemacht und in Abstimmung mit den Vorgesetzten und dem Mitarbeiter selbst Maßnahmen angeregt.

Der erste Schritt war es, dass der Mitarbeiter einen Vortrag zu seiner Hochbegabung in seinem Team halten wird. Dieses Format ist natürlich nicht für alle neurodivergenten Menschen geeignet, je nach Diagnose. Bei allen Maßnahmen ist wichtig, diese immer individuell mit den Betroffenen abzustimmen, so dass sie auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten sind.

So gut gelingt das aber nicht immer, denn es gibt wie gesagt viele Vorurteile. Ideal wäre es, wenn Bewerberinnen und Bewerber wüssten, welche Unternehmen über Neurodiversität Bescheid wissen und vielleicht selbst neurodivergente Chefinnen und Chefs haben. Vielleicht sollten wir mittelfristig eine Art Label für Unternehmen machen: „BZND-zertifiziert“.

Wie können Sicherheitsbeauftragte helfen, neurodivergente Teamkolleginnen und -kollegen zu integrieren?

Keil: Integration kann eigentlich nur erfolgen, wenn die anderen verstehen, wie die Betroffenen sich fühlen. Ich persönlich bin eigentlich gegen Rollenspiele, aber hier könnte hilfreich sein, dass neurotypische Menschen Situationen spielen, die für neurodivergente Menschen herausfordernd sind im Alltag. Aber am besten ist es, eine offene und emotional sichere Umgebung zu schaffen. So dass jeder offen sprechen kann. Jede Person darf alle Fragen stellen. Das heißt, Neurotypische dürfen alle Fragen stellen an die Neurodivergenten, ohne dass diese sich angegriffen fühlen und umgekehrt. Natürlich müssen nicht alle Fragen beantwortet werden, wenn sie etwa zu persönlich sind, aber es sollte zumindest die Möglichkeit geschaffen werden, sie stellen zu können, damit Neurodivergente und Neurotypische sich gegenseitig verstehen lernen.

Kann auch der BZND Betriebe dabei unterstützen, sich diese Tipps und das benannte Grundwissen anzueignen?

Rommel: Ich biete tatsächlich Workshops an für Unternehmen, auch speziell für Führungskräfte oder für Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise. Grundsätzlich für alle, die zumindest eine Grundsensibilisierung zum Thema möchten. Was bedeutet Neurodiversität in der täglichen Kommunikation, wo können Schwierigkeiten auftreten und so weiter.