
Gesundheitsschutz : Neurodiversität im Betrieb: Vielfalt fördern
Eine Mitarbeiterin ist brillant in ihrem Job als Cyber-Security-Spezialistin. Aber vielleicht meidet sie Blickkontakt ebenso wie große Meetings und reagiert auf Witze mit irritiertem Schweigen. Macht sie das zu einer weniger brillanten IT-Spezialistin? Beim IT-Dienstleister Auticon wird diese Frage ganz klar mit einem Nein beantwortet – im Gegenteil. Die meisten Beschäftigten haben besondere Eigenschaften, denn das in Berlin und München ansässige Unternehmen arbeitet vorwiegend mit Autistinnen und Autisten. Viele Menschen im Autismus-Spektrum würden extrem genau und logisch-analytisch an Aufgaben herangehen und „jede Möglichkeit mitdenken“, sagt Ursula Schemm, Marketing Managerin von Auticon. Ideale Fähigkeiten also, um die Cyber-Sicherheit in Unternehmen zu optimieren.
25 %
beträgt die Arbeitslosenquote bei Autistinnen und Autisten ohne intellektuelle Beeinträchtigung in Deutschland. Bei der Gesamtbevölkerung liegt die Arbeitslosenquote bei fünf Prozent.
Quelle: Alarmingly large unemployment gap despite of above-average education in adults with ASD without intellectual disability in Germany: a cross-sectional study; Julia Espelöer, Julia Proft u. a., 2023
Neurodivergente Beschäftigte werden oft ausgebremst
Trotzdem haben viele Autistinnen und Autisten Probleme, einen Job zu finden, der sie weder über- noch unterfordert. Faktoren wie schnelle Reizüberflutung oder Schwierigkeiten, sich in soziale Gefüge einzubringen, können im Arbeitsalltag zum Hindernis werden oder schrecken potenzielle Arbeitgebende ab. Ungewollte Arbeitslosigkeit ist oft die Folge. Auch für andere neurodivergente Beschäftigte kann der Joballtag trotz fachlicher Kompetenz herausfordernd sein.
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist zunächst ein Basiswissen zum Thema Neurodiversität erforderlich. Neurodiversität beschreibt die menschliche neurologische Vielfalt – sprich: die Tatsache, dass unsere Gehirne ganz unterschiedlich funktionieren. Der Begriff zielt darauf ab, diese Vielfalt als natürlich und als Chance anzuerkennen. „Neurodivergente Menschen sind nicht krank, sie verarbeiten äußere Eindrücke nur anders“, sagt der Psychologe Prof. Dirk Windemuth, Direktor des Instituts für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). „Trotzdem erleben wir, wie sehr das Thema tabuisiert wird und wie viele Vorurteile es gibt. Gerade im Berufsleben.“ Der Begriff Neurodiversität fasst ganz unterschiedliche Diagnosen zusammen. Was aber grundsätzlich wichtig ist: ein flexibles, offenes Arbeitsumfeld, in dem sich alle Beteiligten aufeinander einstellen.
Fakten Neurodiversität
Neurodiversität umfasst:
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Autismus: unter anderem erschwerte Interaktion, stereotype Verhaltensmuster, schnelle Überreizung, häufig Inselbegabung
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Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) unter anderem Impulsivität, Hyperaktivität bzw. bei Mädchen/Frauen eher Konzentrations-/Organisationsschwierigkeiten, Schüchternheit
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Dyskalkulie / Legasthenie / Dyslexie: ausgeprägte Rechen-/ Lese-/Rechtschreibschwäche
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Dyspraxie: erschwerte Koordinations- und Bewegungsfähigkeit
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Synästhesie: Verflechtung mehrerer Sinneswahrnehmungen, zum Beispiel „Farbe hören“
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Tourette-Syndrom: chronische Tic-Störung mit unvermittelten Bewegungen, Äußerungen
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Hochbegabung: überdurchschnittliche Intelligenz sowie spezifische Begabungen
Mögliche betriebliche Maßnahmen:
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z. B. ins Gespräch kommen und Risiken mithilfe der Gefährdungsbeurteilung ermitteln
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Arbeitsaufgaben gegebenenfalls anpassen
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Thema enttabuisieren, Team für Besonderheiten neurodivergenter Person sensibilisieren
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Unterweisungen/Dokumente auf Bedürfnisse der Beschäftigte zuschneiden, zum Beispiel einfache oder besonders klare Sprache nutzen
Strukturen schaffen, die Sicherheit geben und Verständnis fördern
Auticon setzt auf zwei Ebenen an: intern und bei den Kundinnen und Kunden, denn die Beschäftigten werden an externe IT-Projekte vermittelt. „Egal, wo unsere Beschäftigten arbeiten, sie wissen, dass sie bei uns einen Ort haben, an dem sie sie selbst sein können“, so Ursula Schemm. Dazu trägt nicht zuletzt die Tatsache bei, dass die autistischen Beschäftigten – die rund 80 Prozent des Teams ausmachen – untereinander eine „starke Community“ gebildet haben, so Schemm.
Ganz zentral ist aber auch die Arbeit der sogenannten Job Coaches, die bei Auticon als direkte Ansprechperson fungieren. „Die Coaches haben einerseits die mentale Gesundheit unserer Beschäftigten im Blick. Manche Autistinnen und Autisten bemerken manchmal gar nicht, wenn sie völlig überlastet sind“, sagt Schemm. „Außerdem sind die Job Coaches in die Projekte involviert und sorgen dafür, dass die Kommunikation mit den Auftraggebern reibungslos funktioniert.“ Dazu gehört auch ein Besuch bei neuen Kundinnen und Kunden, um diese über Autismus aufzuklären. „Idealerweise sind die Beschäftigten bei dem Gespräch dabei und können sich selbst vorstellen. Das bereitet den Boden für gegenseitiges Verständnis“, meint Schemm.
Klicktipp
Weitere Impulse zur Förderung neurodivergenter Beschäftigter im Interview mit dem BZND Zentrum für Neurodiversität e. V.
Reizüberflutung vermeiden, Dokumente klar formulieren
Im Arbeitsalltag gilt es dann gemeinsam herauszufinden, wie gesunde und sichere Bedingungen geschaffen werden können. Oft seien es schon kleine Maßnahmen, die den autistischen Mitarbeitenden den Alltag deutlich erleichtern, sagt Schemm. Das kann die Option sein, statt im Großraumbüro in einem Einzelbüro oder im Homeoffice zu arbeiten, um eine Reizüberflutung zu vermeiden. „Man muss sich vorstellen, dass jeder Reiz ungefiltert und in sehr hoher Intensität im Gehirn ankommt“, so Schemm. Schon ein leises Gespräch von zwei Kolleginnen am Nachbartisch könne extrem anstrengend sein. Zudem nähmen viele Autistinnen und Autisten Sprache sehr wörtlich. Metaphern würden von ihnen meist ebenso wenig verstanden wie die Verwendung von Symbolen. Dokumente sollten für jene Beschäftigte daher gut strukturiert und in klarer, direkter Sprache verfasst werden.

Auf Stärken fokussieren und Prozesse gezielt anpassen
Es gibt aber nie „die eine“ neurodivergente Beschäftigte oder „den einen“ Autisten. „Manchen Menschen merkt man gar nicht an, dass etwas anders ist. Andere fühlen sich vielleicht unterfordert oder machen Fehler“, so IAG-Experte Windemuth. Er erinnert sich an eine Autistin, bei der zusätzlich ADHS diagnostiziert worden war. Nach einem Arbeitsunfall wurde ihr ein vorübergehendes Arbeitsverbot im gefährlichen Bereich erteilt. „Aber statt die Person von ihrem Arbeitsbereich zu entfernen, sollten Verantwortliche schauen, wo ihre Stärken liegen und welche Maßnahmen zu sicherer Arbeit beitragen.“ Individuelle Schutzmaßnahmen werden mithilfe der Gefährdungsbeurteilung ermittelt. Dabei können auch Sicherheitsbeauftragte unterstützen, die ihr Team oft besonders gut kennen.
Wichtig ist: Beschäftigte sind nicht verpflichtet, bei einem Bewerbungsgespräch oder in einem bestehenden Arbeitsverhältnis Diagnosen preiszugeben. Allerdings können nur dann betriebliche Maßnahmen getroffen und Stärken gefördert werden, wenn Verantwortliche von Neurodiversität in ihrem Team wissen, sagt Windemuth. Ohnehin ist Kommunikation oft der Schlüssel, um Herausforderungen konstruktiv zu begegnen. Auch hier kann das Engagement von Sicherheitsbeauftragten eine große Chance für die Inklusion neurodivergenter Beschäftigter sein: „Sie können eine erste Ansprech- und Vertrauensperson sein. Bestenfalls haben sie eine vermittelnde Funktion innerhalb des Teams“, so Windemuth.