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Berufliche Wiedereingliederung: Neuer Job im alten Betrieb
Teamleiter Logistik Mario Herrmann (links) stimmt sich mit Martin Malicki beim Gang durch die Lagerhallen ab. © raufeld/Alexandra Meister

Arbeitssicherheit : Berufliche Wiedereingliederung: Neuer Job im alten Betrieb

Bei einem Arbeitsunfall verlor Martin Malicki einen Arm. Dank Reha und Unterstützung von Arbeitgeber und Berufsgenossenschaft gelang die berufliche Wiedereingliederung.

Ein gewöhnlicher Arbeitstag beginnt für Martin Malicki mit einem Rundgang durch den Betrieb. Seit mittlerweile 20 Jahren ist er im Unternehmen. Fast alle, die hier arbeiten, kennen ihn. Beim Gang durch die Werks- und Lagerhallen grüßt er die Kolleginnen und Kollegen und spricht sich bei Bedarf mit ihnen ab. Teil des mehr als drei Kilometer langen Rundgangs ist es außerdem, den Füllstand der großen Müllcontainer zu kontrollieren, die außen am Magnera-Werk im brandenburgischen Pritzwalk stehen. Malicki plant, wann die Abholung der sortenrein getrennten Abfälle erfolgen muss. „Meine Erfahrung aus der Produktion ist hilfreich, um das richtig abzuschätzen“, sagt Martin Malicki.

Beim morgendlichen Rundgang prüft Martin Malicki den Füllstand der Abfallcontainer. © raufeld/ Alexandra Meister

Eingeklemmt zwischen zwei Walzen

Acht Jahre lang hatte er als Multioperator in der Produktion von Vliesstoffen für Hygieneartikel gearbeitet, als der Tag kam, der alles veränderte. Am 2. November 2013 geriet Malicki beim Anfahren der Maschine mit dem rechten Arm zwischen zwei Walzen. Mithilfe des Not-Halts stoppt er die Anlage, bekommt aber den Arm nicht heraus. Die Walzen haben eine Betriebstemperatur von 180 Grad Celsius. „Bis die Hilfe nach einer Viertelstunde eintraf, konnte ich zusehen, wie mein Arm langsam durchgebraten wurde“, erinnert sich Malicki. Im BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin musste sein rechter Arm oberhalb des Ellenbogens amputiert werden – der Druck der Walzen und die Hitze hatten das Gewebe darunter zerstört.

Lauter kleine Hindernisse

Der Unfall war ein Schock für Martin Malicki, aber auch für seine damals 14-jährige Tochter, die er allein erzog. Seine Kolleginnen und Kollegen, die den Unfall miterlebt hatten, waren ebenfalls tief betroffen. Eine psychotherapeutische Betreuung half allen, mit dem traumatischen Ereignis umzugehen. Die Amputation veränderte Malickis Leben von Grund auf. Ins Fitnessstudio zu gehen, Drachenboot und Motorrad zu fahren – das alles war nicht mehr möglich. Zu den großen Veränderungen kamen zahlreiche kleinere. Im Alltag sind sie es, die Malicki Probleme bereiten. „Die Haltehand fehlt“, benennt er es. Sei es, wenn er Zahnpasta auf die Zahnbürste oder Rasierwasser auf die Haut auftragen will oder etwas auf einem Zettel notieren möchte.

„Eigentlich wollte ich nie im Büro am Schreibtisch arbeiten.“

Martin Malicki, Sachbearbeiter Produktionsmanagement bei Magnera in Pritzwalk

Beruflicher Wiedereinstieg: Hilfe durch Prothese

Zumindest einen kleinen Teil der früheren Funktion von Arm und Hand hilft eine myoelektrische Prothese zu ersetzen. Im Unfallkrankenhaus war es in mehreren Operationen gelungen, den Stumpf für eine Prothese fit zu machen. Auch, indem Haut aus Malickis Oberschenkel verpflanzt wurde. Die motorisierte Prothese kann er mithilfe von Muskelsignalen im Stumpf steuern. Ihre Funktionen reichen aber nicht aus, um weiterhin als Multioperator weiterarbeiten zu können. Zudem wäre der Schichtdienst zu anstrengend. Doch der damalige Geschäftsführer seines Arbeitgebers gab ihm sowie den Kolleginnen und Kollegen das Versprechen, dass es für Malicki einen Platz im Unternehmen geben werde. Elf Monate nach seinem Unfall und langer Rehabilitation war Malicki zurück im Betrieb – in neuer Funktion, die eigens für ihn geschaffen wurde.

Neue Aufgaben im Betrieb

Als Sachbearbeiter Produktionsmanagement kümmert er sich seitdem neben der Organisation der Abfallentsorgung um Ersatzteil und Rohstoffbeschaffung und ist Ansprechpartner für Fremdfirmen, die Arbeiten auf dem Außengelände durchführen, wie zum Beispiel die Grünpflege. Den Großteil seiner Arbeitszeit verbringt er jedoch am Schreibtisch. „Dabei wollte ich eigentlich nie im Büro arbeiten“, sagt Malicki.

Bei der Wiedereingliederung unterstützte ihn auch seine Berufsgenossenschaft, die BG ETEM. Zum Reha-Management der gesetzlichen Unfallversicherung gehört nach einem Arbeitsunfall nicht nur die medizinische Versorgung und anschließende Reha, sondern auch Hilfe bei der beruflichen und sozialen Teilhabe. „Es ist eine ganze Bandbreite von Leistungen, mit denen das Reha-Management unterstützt“, sagt Joscha Schwarzwälder, Referatsleiter Heilbehandlung und Teilhabe bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Bei der beruflichen Teilhabe reicht sie von der Umgestaltung des Arbeitsplatzes über Unterstützung der beruflichen Mobilität bis hin zu Weiterbildung und Umschulung für neue Tätigkeiten oder gar Berufe.

Nach dem Prüfgang ist Martin Malicki überwiegend im Büro tätig. © raufeld/Alexandra Meister

Berufliche Teilhabe nach Arbeitsunfall oder Berufskrankheit ermöglichen

  • Sicherung des Arbeitsplatzes: Die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz zu ermöglichen, ist erstes Ziel der gesetzlichen Unfallversicherung. Dazu kann der Umbau des Arbeitsplatzes gehören, der Einsatz von Hilfsmitteln oder eine Arbeitsassistenz.
  • Verbleib im Betrieb: Kann die bisherige Tätigkeit nicht weiter ausgeübt werden, kommt ein Wechsel zu einem anderen Arbeitsplatz in Betracht. Eine Neu- oder Weiterqualifizierung wird unterstützt.
  • Anderen Arbeitsplatz finden: Gelingt der Verbleib beim bisherigen Betrieb nicht, unterstützt die gesetzliche Unfallversicherung bei der Vermittlung eines anderen Arbeitsplatzes. Dabei hilft zum Beispiel der Service DGUV job.
  • Weiter qualifizieren: Braucht es für eine neue Tätigkeit eine betriebliche oder überbetriebliche Weiterbildung, unterstützt auch hier die gesetzliche Unfallversicherung – wenn nötig, auch bei einer längeren Umschulung.

Klicktipp: Alle Unterstützungsangebote des Reha-Managements

Mobilität bleibt erhalten

Bei Martin Malicki gehörte dazu, dass er für seinen Büroarbeitsplatz Hilfsmittel bekam – etwa eine ergonomisch passende Maus und Tastatur, eine Stütze für den linken Arm sowie eine rutschfeste Unterlage. „Sie erlaubt mir, mit einer Hand Notizen auf Post-its und Zetteln zu machen“, so Malicki. Für längere Texte nutzt er den auf seinem Computer installierten Sprachassistenten. Außerdem wurde auch die Umrüstung seines Autos bezahlt, damit er es mit einer Hand lenken und bedienen kann. Das geschieht per Knauf. Wenn Malicki darüber hinaus Unterstützung braucht, meldet er sich bei seinem Reha-Manager. „Der Kontakt zu ihm ist gut. Er ruft mich auch mal an, fragt, wie es mir geht und ob ich etwas brauche“, so Malicki.

Die myoelektrische Prothese von Martin Malicki. © raufeld/Alexandra Meister

Enge Zusammenarbeit

In Betrieben mit Betrieblichem Eingliederungsmanagement (BEM) arbeitet das Reha-Management eng mit dem oder der BEM-Beauftragten zusammen. „Meist nimmt das Reha-Management an den BEM-Gesprächen teil und unterstützt“, sagt Peggy Hammer, Referentin Heilbehandlung und Teilhabe bei der DGUV. In kleineren Betrieben ohne BEM-Beauftragte steuern die Vertreterinnen und Vertreter der Unfallkasse oder Berufsgenossenschaft das Verfahren. Sie verfügen über das dafür notwendige Wissen. „Viele Reha-Managerinnen und -Manager haben sich zudem im Disability-Management weitergebildet“, so Hammer.

Klicktipp

Der Leitfaden der DGUV zum Reha-Management

Stufenweise wieder eingegliedert

Als Malicki verunglückte, gab es noch keine betriebliche BEM-Struktur. In Absprache mit der BG ETEM und dem damaligen Betriebsarzt wurde aber ein Programm erarbeitet, zu dem zum Beispiel die stufenweise Wiedereingliederung gehörte. Dieses sieht vor, dass Arbeitszeit und Arbeitsbelastung schrittweise gesteigert werden. Malicki ist mittlerweile 30 Stunden in der Woche im Betrieb, sechs pro Tag. „Mehr schaffe ich nicht“, berichtet er. Zusätzlich bekommt er eine Verletztenrente von der BG ETEM. Aufgrund der Unfallfolgen kann es noch immer passieren, dass er häufiger ausfällt. So geschah es 2023. Malicki benötigte eine Nachoperation – seine insgesamt 15. Operation nach dem Unfall. Die mehr als 100 Tage, die er über das Jahr krankgeschrieben war, führten dazu, dass Malicki vom Arbeitgeber ein BEM-Verfahren angeboten wurde.

Mit Jörg Schulz, dem Vorsitzenden des Betriebsrats, arbeitet Malicki als Vorsitzender der Schwerbehindertenvertretung eng zusammen. © raufeld/Alexandra Meister

Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

Vorraussetzung:

  • Die beschäftigte Person war innerhalb von zwölf Monaten länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig und nimmt das BEM-Angebot an.

Ziele:

  • Arbeitsunfähigkeit überwinden
  • Arbeitsplatz/Beschäftigungsfähigkeit erhalten
  • Arbeitsunfähigkeit künftig vermeiden BETEILIGTE:
  • Arbeitgebende bzw. Vertreterin/ Vertreter (meist Personalabteilung)
  • BEM-berechtigte Person OPTIONAL ZUDEM (MIT ZUSTIMMUNG DER BEM-BERECHTIGTEN PERSON):
  • Person des eigenen Vertrauens (aus beruflichem oder privatem Kontext)
  • Betriebsärztin/Betriebsarzt
  • Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa)
  • Betriebliche Interessenvertretung/ Betriebsrat
  • Rehabilitationsträger (etwa gesetzliche Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung, Bundesagentur für Arbeit)
  • Gegebenenfalls Schwerbehindertenvertretung und/oder Integrationsamt

Ablauf:

  1. Kontaktaufnahme: Durch Arbeitgebende oder eine BEM-beauftragte Person, am besten vor Rückkehr der BEM-berechtigten Person. Stimmt diese zu, wird ein vertrauliches Erstgespräch terminiert. Die Teilnahme ist freiwillig.
  2. Erstgespräch: Die Arbeitgebenden beziehungsweise die beauftragte Person informieren über Inhalt und Ziele des BEM; hier werden gemeinsam die weiteren Beteiligten bestimmt.
  3. Weitere Gespräche: Gemeinsam mit den Beteiligten werden vertraulich Einschränkungen, Möglichkeiten sowie erforderliche Maßnahmen geklärt. Dazu kann etwa eine stufenweise Wiedereingliederung (Hamburger Modell) gehören oder die Anschaffung neuer Arbeitsmittel, die Anpassung von Arbeitsplatz und/oder Arbeitszeiten beziehungsweise die Umstrukturierung von Arbeitsaufgaben.
  4. Maßnahmen umsetzen/überprüfen: Schriftlich vereinbarte Maßnahmen werden möglichst bald realisiert, und mit allen Beteiligten wird geklärt, ob sie funktionieren.
  5. BEM-Abschluss: Sind die vereinbarten Ziele erreicht, ist das BEM beendet. Meist führen Arbeitgebende beziehungsweise BEM-Beauftragte ein Abschlussgespräch.

BEM-Team im Unternehmen

Im Gegensatz zu der Zeit kurz nach seinem Unfall gibt es dafür inzwischen einen geregelten Ablauf im Betrieb. Er basiert auf einer Betriebsvereinbarung zum BEM, die Betriebsrat und Geschäftsleitung geschlossen haben. „Alle, die in den vergangenen zwölf Monaten sechs Wochen am Stück oder mit Unterbrechungen krank waren, bekommen von uns ein BEM angeboten“, sagt Jana Bauer. Sie ist Personalreferentin und Inklusionsbeauftragte am Pritzwalker Standort des internationalen Konzerns und Teil des BEM-Teams im Betrieb, das aus Vertreterinnen und Vertretern der Personalabteilung und des Betriebsrats besteht. „Bei Bedarf ziehen wir auch unsere Betriebsärztin hinzu. Auf Wunsch der Betroffenen sitzt außerdem ein Betriebsrat mit im Gespräch – und bei Beschäftigten mit Behinderungen auch die Schwerbehindertenvertretung“, so Bauer weiter.

Jana Bauer, Personalreferentin und Inklusionsbeauftragte bei Magnera © BG ETEM/André Forner

52 %

der potenziell BEM-Berechtigten erhielten laut Erwerbstätigenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2024 ein BEM-Angebot. 67 Prozent davon nahmen es an.

Umfangreiche Unterstützung

Malicki bat bei seinem BEM-Verfahren noch die BG ETEM zu Hilfe. Eine BG-Vertreterin begleitete ihn während eines Arbeitstages. „Sie hat gesehen, dass mich ein paar Hilfsmittel unterstützen würden“, berichtet Malicki. So ist es für ihn schwierig, mit einer Hand die Seifen und Desinfektionsmittelspender zu bedienen, die an den Ein- und Ausgängen zu den Werkshallen installiert sind. Daraufhin wurden automatische Spender mit Sensoren installiert. Martin Malicki kennt BEM-Gespräche aber auch noch aus anderer Perspektive – als Vorsitzender der Schwerbehindertenvertretung (SBV). Jörg Schulz, der Vorsitzende des Betriebsrats, hatte ihn ermuntert, sich zur Wahl zu stellen. Seitdem vertritt er die Interessen der rund 20 Beschäftigten mit Behinderung am Magnera-Standort in Pritzwalk. Außerdem unterstützt er ehrenamtlich im Unfallkrankenhaus Berlin andere Betroffene als Peer dabei, nach einem Arbeitsunfall mit den Folgen umzugehen. „Ich möchte etwas zurückgeben und anderen zeigen, dass es irgendwie weitergeht. Mir selbst hat auch so ein Peer nach dem Unfall geholfen“, sagt der 52-Jährige.

Privater Rückhalt

Das Wissen, gebraucht zu werden, hilft ihm an Tagen, an denen es ihm nicht gut geht – sei es psychisch oder weil die permanenten Schmerzen zu groß sind. Noch immer nimmt er Medikamente und bekommt regelmäßig Physiotherapie, die er in der Arbeitszeit absolvieren darf. Aber auch der private Rückhalt ist eine große Stütze, durch seine Töchter und seine zweite Frau, mit der er gerade den ersten Hochzeitstag gefeiert hat.