Arbeitssicherheit : Mit Wasserstoff arbeiten: Explosionsschutz streng nach Plan
Wiesen und Felder, so weit das Auge reicht, in der Ferne grasen ein paar Schafe – und mittendrin stehen die Bürogebäude der Westnetz GmbH. Der Strom- und Gasverteilnetzbetreiber aus Dortmund hat hier im münsterländischen Metelen eine Außenstelle. Ein wahrlich grüner Arbeitsplatz für die rund zwei Dutzend Beschäftigten – passend zum grünen Strom, der auf dem Dach von zwei Photovoltaik-Anlagen produziert wird.
Die sind aber nur ein Teil des Kreislaufs, der die Dienststelle mit Strom versorgt. Denn da steht auch noch dieser weiße Metallcontainer neben dem Gebäude. An dessen Tür angekommen wird klar, warum Netzingenieur Sascha Niebialek und der Sicherheitsbeauftragte und Monteur Marc Trompeter Sicherheitsschuhe, flammenhemmende Schutzkleidung und Helm tragen: „Feuer- und Explosionsgefahr“, warnt ein Aufkleber, „Schutzkleidung tragen“ fordert ein anderer. Auch die großen, roten Druckgasflaschen, die ein paar Meter daneben hinter einem Metallgitter stehen, zeigen, dass hier mit brennbaren Gasen gearbeitet wird. In diesem Fall: Wasserstoff.
Moderne, smarte Technik für eine sichere Wasserstoffanlage
Der wird im Inneren des Containers mit hochmoderner Technik erzeugt. Dazu gehören eine digitale Kontrollanlage, eine Brennstoffzelle und ein Elektrolyseur. Das Zusammenspiel aller Komponenten setzt ein Verfahren namens „Power-to-Gas“ („Strom zu Gas“) in Gang. „Im Elektrolyseur wird Wasser mithilfe des grünen Stroms in seine Einzelteile zerlegt: Sauerstoff und Wasserstoff. Dann wird der Wasserstoff verdichtet und in den Flaschen gespeichert“, sagt Sascha Niebialek.
Als zuständiger Netzingenieur betreut er das vor drei Jahren gestartete Projekt von Anfang an und ist heute aus dem Ruhrgebiet angereist. „An sonnenarmen Tagen nutzt das System zunächst die Reserven aus den Batteriespeichern der Photovoltaikanlage. Sind diese leer, wird auf den Wasserstoffspeicher zurückgegriffen. Der Wasserstoff wird rückverstromt und der Strom in die Bürogebäude eingespeist.“ Das Pilotprojekt liefert Erkenntnisse, wie grüner Strom mithilfe von Wasserstoff ganzjährig genutzt und langfristig gespeichert werden kann. Eine zukunftsträchtige Technologie, die aber auch einige Neuerungen für den Arbeitsschutz bedeutet.
An Verhaltensregeln regelmäßig erinnern
Niebialek und Trompeter haben zwar längst Routine mit der Anlage, jeder Handgriff sitzt. Doch sobald der Container geöffnet wird, arbeiten beide höchst konzentriert. Die Betriebsanweisung nach Gefahrstoffverordnung für Wasserstoff hängt gut sichtbar an der Innenseite der Tür. Sie weist auf die Brand- und Explosionsgefahr des extrem entzündlichen Gases hin und listet alle Verhaltensregeln auf.
Eine explosionsfähige Atmosphäre vermeiden – das steht im Fokus des Arbeitsschutzes. Sprich ein explosionsfähiges Gemisch aus Luft beziehungsweise Sauerstoff und Wasserstoff. Die technischen Schutzmaßnahmen werden dabei durch organisatorische Schutzmaßnahmen ergänzt, um sicheres Arbeiten für die Beschäftigten zu gewährleisten.
Checkliste
Schutzmaßnahmen bei Arbeiten mit Wasserstoff nach dem TOP-Prinzip
T – technische Schutzmaßnahmen:
- Bildung explosionsfähiger Atmosphäre durch auf Dauer technisch dichte Anlagen vermeiden
- in Aufstellungsräumen: technische oder natürliche Belüftung gewährleisten
- Zündquellen vermeiden, zum Beispiel durch explosionsgeschützte elektrische Betriebsmittel oder eine Erdungskette für Beschäftigte
- Gaswarngeräte müssen für Wasserstoff geeignet sein
O – organisatorische Schutzmaßnahmen:
- Gaskonzentration mit Gaswarngeräten überwachen
- Brandbekämpfungsmittel bereitstellen
- Mit funkenarmen Werkzeugen arbeiten
P – personenbezogene Schutzmaßnahmen
- Persönliche Schutzkleidung (PSA) nach DIN EN ISO 11612 tragen
- ableitfähige Schutzkleidung tragen
- Unterweisungen und Schulungen durchführen
Tragbare Gaswarngeräte ergänzen technische Schutzmaßnahmen
Dafür nutzten Marc Trompeter und Sascha Niebialek ein orangefarbenes Gaswarngerät, das sie an allen relevanten Leitungen im Container und an den Druckgasflaschen entlangführen. „Das Gerät saugt die Umgebungsluft an und prüft die Wasserstoffkonzentration. Die untere Explosionsgrenze von Wasserstoff liegt bei vier Volumenprozent. Das Gerät schlägt aber bereits bei geringsten Konzentrationen an“, sagt Niebialek.
Der Alarm bleibt aus, die Anlage ist also dicht. Eine zusätzliche Hilfe für die beiden Fachleute: Eine Checkliste gibt alle erforderlichen Arbeitsschritte vor. Abgehakt werden diese digital auf einem Touchpad. Neben dem Explosionsschutz müssen die Fachleute aber auch die Gefährdungen durch Druck in den Rohrleitungen und Anlagenteilen beachten. Aus diesem Grund sieht die Checkliste unter anderem auch eine Gasdruckprüfung vor.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Wasserstoff und Erdgas
„Viele der Prozesse und Schutzmaßnahmen sind denen an Erdgasanlagen sehr ähnlich“, sagt Andreas Schulte. Er ist Fachkraft für Arbeitssicherheit bei Westnetz in Dortmund und hat den Arbeitsschutz des Projektes koordiniert – zusammen mit der Abteilung Health, Safety und Environment. „Aber es bleiben zwei unterschiedliche Gefahrstoffe mit unterschiedlichen Zündgrenzen.“ Die unteren Explosionsgrenzen seien mit vier Volumenprozent zwar identisch, aber Wasserstoff könne mit einer deutlich geringeren Zündenergie als Erdgas entzündet werden. Schon der mechanische Funken eines Werkzeuges könnte eine Verpuffungsreaktion auslösen.
Das könnte einer der Gründe sein, warum das innovative Projekt im Vorfeld bei manchen Beschäftigten für Unsicherheit gesorgt hat. „Alle Mitarbeitenden haben zwar Erfahrung im Umgang mit Gefahrstoffen wie Erdgas. Und die Betriebsanweisung ist zu etwa 95 Prozent deckungsgleich mit der von Wasserstoff. Doch es bleibt der Respekt vor dem Neuen, dem Unbekannten. Und dem müssen wir Rechnung tragen und den Leuten mit genauen Vorgaben signalisieren: Ihr könnt auch an Wasserstoffanlagen und Wasserstoffleitungen sicher arbeiten“, sagt Andreas Schulte. Eine umfassende Unterweisung habe letzte Unsicherheiten bei den Beschäftigten ausräumen können.
Schritt für Schritt auf neuen Gefahrstoff vorbereiten
- Fachwissen bündeln: Team für Erstellung des Schutzkonzeptes zusammenstellen (zum Beispiel Fachkraft für Arbeitssicherheit, operative Führungskräfte)
- Externe Expertise nutzen: Etwa von der Berufsgenossenschaft oder Betrieben, die den Gefahrstoff bereits nutzen
- Hersteller auswählen: Bei Einsatz neuer Technik: erfahrenen Hersteller recherchieren und prüfen, ob dieser bei Wartung und Unterweisung unterstützt
- Gefährdungsbeurteilung durchführen: Gefährdungen ermitteln Schutzmaßnahmen festlegen, zum Beispiel: technisch dichte Anlagen, Zündquellen vermeiden, Schutzkleidung tragen, Fristen zur Überprüfung der Maßnahmen festlegen
- Beschäftigte qualifizieren: Fachlich geeignetes Personal muss zur Verfügung stehen; frühzeitig Schulungen/Unterweisungen vorbereiten
Gefährdungsbeurteilung und Explosionsschutzdokument erstellen
„Die Arbeit mit einem neuen Gefahrstoff ist immer mit einigen neuen Fragestellungen für den Arbeitsschutz verbunden“, sagt auch Dr. Albert Seemann. Der Ingenieur ist Leiter des Sachgebiets Energie und Wasser der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und für Betriebe eine Hauptansprechperson zum Thema Wasserstoff. „Vor Beginn der Tätigkeiten müssen die Gefährdungsbeurteilung und das Explosionsschutzdokument erstellt werden“
Explosionsschutz und Gefährdungsbeurteilung
- Bei der Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung müssen Gefährdungen durch explosionsfähige Stoffe oder Gemische gesondert erfasst werden.
- Dies erfolgt mit einem Explosionsschutzdokument. Es beinhaltet alle technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen.
- Alle spezifischen Besonderheiten des Stoffes, etwa die Explosionsgrenzen, müssen aufgelistet und berücksichtigt werden.
- Außerdem wird der Bereich in und um die Anlagen in Zonen eingeteilt; je nach Gefährdungspotenzial variieren hier die Schutzmaßnahmen.
Erläuterung: Ein explosionsfähiges Gemisch entsteht z. B. aus brennbarem Gas (Wasserstoff) und Luft; durch eine wirksame Zündquelle können Brände und Explosionen entstehen, Druck und Temperatur steigen sprunghaft an
Arbeitsschutz als Unternehmensziel definiert und von oben vorgelebt
Für die tägliche Arbeit findet der Sicherheitsbeauftragte Marc Trompeter ganz wichtig, dass Arbeitsschutz von oben vorgelebt wird. „Käme ein Mitglied des Vorstandes hier im Hawaiihemd und kurzer Hose an die Anlage, wie sollte ich dann den Monteuren erklären, dass sie ihre Schutzkleidung tragen müssen?“ Sicherheitsfachkraft Andreas Schulte ergänzt: „Bei Westnetz gab es in den vergangenen Jahren schwere Unfälle. Darauf hat die Geschäftsführung mit zahlreichen Maßnahmen reagiert. So wurden Sicherheit und Gesundheit zu den obersten Unternehmenszielen erklärt. Und das Programm ‚Gemeinsam gesund & sicher‘ ins Leben gerufen, das unter anderem lebensrettende Regeln und gezielte Schulungen für alle Beschäftigten umfasst. Arbeitsschutz wird heute bei uns von allen gelebt und ist fester Bestandteil der Unternehmenskultur.“
Für den Erfolg der Maßnahmen spricht, dass dem Sicherheitsbeauftragten Trompeter partout kein aktuelles Beispiel für eine Risikosituation einfallen will. „Aber die Kolleginnen und Kollegen wissen, dass sie mich jederzeit ansprechen können.“ Trompeter hatte sich 2021 proaktiv auf das Ehrenamt beworben. „Ich finde es wichtig, dass alle so gesund nach Hause gehen, wie sie gekommen sind.“
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Wasserstoffanlage und Batteriespeicher im Keller prüfen
Dafür tun die beiden Fachleute auch heute ihr Bestes. Neben der Wasserstoffanlage gehört auch der Keller des Bürogebäudes zur Prüfroutine. Hier sind die Batteriespeicher der Photovoltaikanlage installiert. Statt um den Explosionsschutz geht es hier vor allem um Brandschutz. So besteht zum Beispiel das Risiko eines Kurzschlusses. Deswegen wurden die Fenster zugemauert – ein Feuer könnte so nicht auf die gedämmte Hauswand übergreifen. Zudem lagern hier die Gaswarngeräte, die vor jedem Einsatz mit einer Gasprobe getestet werden. „Ganz wichtig: Die Technik muss mit Wasserstoff kompatibel sein. Ein nur für Erdgas genormtes Gerät würde nicht reagieren“, sagt Sascha Niebialek.
Zurück an der Wasserstoffanlage kommen die Geräte erneut zum Einsatz: Auf der Rückseite der Anlage gibt es eine weitere Tür, dahinter arbeitet der knallblaue Verdichter. Hier wird der Wasserstoff verdichtet und anschließend in die Druckgasflaschen abgefüllt. Niebialek weist vor Ort auf eine weitere Schutzmaßnahme hin: „Wenn wir Wartungen vornehmen, müssen zuvor alle Leitungen mit Stickstoff gespült werden. Er verdrängt den Wasserstoff, sodass ein explosionsfähiges Gemisch gar nicht erst entstehen kann.“ Nach etwa 45 Minuten ist der Kontrollgang beendet, der nächste ist in einer Woche fällig. „Den Großteil der Zeit läuft die Anlage selbstständig. Es ist ja alles smart vernetzt, über Störungen würde auch die Zentrale in Dortmund sofort informiert“, sagt Netzingenieur Niebialek.
Wasserstoff als grüner Energieträger der Zukunft?
Die Vorteile von grünem Wasserstoff liegen auf der Hand. Die Dienstgebäude in Metelen sind durch den Wasserstoffspeicher, der Reserven für zwei bis drei Wochen hat, zu 92 Prozent stromautark. Doch Fachleute sehen in der Technik noch größeres Potenzial: Wasserstoff kann auch ins öffentliche Gasnetz eingespeist werden. Ein Modellprojekt ist bei Westnetz bereits angelaufen. Zudem fallen, sofern er mit Ökostrom erzeugt wird, keine CO2-Emissionen an. Und wie DGUV-Experte Dr. Seemann betont: Auch aus Sicht des Arbeitsschutzes spricht grundsätzlich nichts gegen den Einsatz von Wasserstoff. Solange dabei der Schutz der Beschäftigten immer im Fokus steht.