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„Übergriffe auf keinen Fall herunterspielen“
Wichtig ist, offen über das Thema Gewalt zu sprechen und Betroffene unbedingt zu bestärken © Adobe Stock/ nenetus

Arbeitssicherheit : „Übergriffe auf keinen Fall herunterspielen“

Betriebe müssen ihre Beschäftigten vor Gewalt schützen. DGUV-Expertin Hannah Huxholl über durchdachte Maßnahmen – auch nach einem Übergriff.

Frau Huxholl, für das Jahr 2023 verzeichnet die DGUV-Statistik über 14.000 meldepflichtige Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit Gewalt. Wie schätzen Sie diese Fallzahlen ein?

Es handelt es sich bei dieser Statistik nur um die meldepflichtigen Arbeitsunfälle. Ein solcher liegt vor, wenn Versicherte getötet werden oder so verletzt sind, dass sie mehr als drei Tage arbeitsunfähig werden. Nicht meldepflichtige Unfälle werden hierin also gar nicht berücksichtigt. Aber grundsätzlich können Betriebe in Rücksprache mit den Betroffenen einen Gewaltvorfall auch unabhängig von der Zahl der Krankheitstage melden, wenn sie merken, dass die Person aufgrund des Arbeitsunfalls Unterstützungsbedarf hat.

Hannah Huxholl, Referentin im Referat Gesundheit im Betrieb, Nationale Präventionsstrategie der DGUV © Privat

Die Zahlen zeigen auch, dass die Gewalt deutlich häufiger durch betriebsfremde Personen ausgeübt wird. Wieso kommt es so oft zu Aggressionen, etwa im Gesundheitssektor oder im Servicebereich?

Das hat unterschiedliche Ursachen. Im Krankenhaus beispielsweise sind Menschen in Ausnahmesituationen, sie stehen unter Stress, haben vielleicht Angst. Da kann ein Tropfen das Fass schnell zum Überlaufen bringen. Im Kontakt mit Kundinnen und Kunden, etwa in einem Callcenter, gibt es oft eine initiale Frustration. Die Menschen melden sich bei einem Kundenservice ja meist nur, wenn sie ein Problem haben. Wird ihnen dann nicht so geholfen, wie sie es sich erhoffen, baut sich die Frustration immer weiter auf. Damit verbunden ist das Gefühl, ‚der oder die Beschäftigte tut nicht, was ich brauche‘.

Ein Erklärungsansatz ist der ‚Fundamentale Attributionsfehler‘. Demnach wird der Einfluss anderer Menschen auf ein Problem oft viel höher eingeschätzt wird als situative Faktoren. Hat etwa die Bahn Verspätung, geht man eher von einem menschlichen Fehler aus als davon, dass die Wetterbedingungen die Ursache sind. Entsprechend wird der Ärger eher am Personal ausgelassen. Deswegen ist es wichtig, dass Beschäftigte in kritischen Gesprächen die situativen Faktoren benennen, um das Problem einzuordnen. Man muss klar und transparent bleiben. Je mehr Imagination man zulässt, desto schlimmer kann das eskalierende Verhalten werden.

Damit wären wir bereits bei konkreten Maßnahmen, um Beschäftigte für riskante Situationen zu wappnen. Sollten entsprechende Schulungen ein Muss sein?

Schulungen, etwa zur Deeskalation, sind durchaus sinnvoll. Deeskalationstrainings zielen darauf ab, zu intervenieren, bevor es ungemütlich wird. Wer lernt, wie in der gerade beschriebenen Situation relevante Informationen bereitzuhalten und der aggressiven Person zu vermitteln, kann die Aggression oft im Keim ersticken. Beschäftigte lernen dabei auch, durch Gestik, Mimik und ihre Stimme zu deeskalieren. Aktives Zuhören und eine selbstbewusste Körperhaltung können eine verbale Aggression oft entschärfen. Unbedingt müssen Beschäftigte in so einem Training auch lernen, wann sie die Flucht zu ergreifen haben. Aber: Deeskalationstrainings sind eine personenbezogene Maßnahme. Sie sind also nicht der erste Schritt, denn Betriebe sollten Gewaltschutzmaßahmen nach dem TOP-Prinzip erarbeiten. Technische und organisatorische Maßnahmen müssen daher zuerst geprüft werden.

Welche Maßnahmen könnten das sein?

Technisch kann das etwa der verglaste Empfangstresen sein oder ein geschützter Kassenbereich, aus dem regelmäßig der Bargeldbestand abgeschöpft wird. Eine organisatorische Maßnahme für Krankenhäuser oder Ämter kann ein Bildschirm sein, auf dem mein Termin angezeigt wird und ich sehen kann, wann ich dran bin. Wartebereiche sollten außerdem so eingerichtet werden, dass alle sitzen können und die Temperatur in Ordnung ist.

Gewalt verhindern: Gemeinsam gegen Übergriffe

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Wie finden Verantwortliche heraus, welche Maßnahmen die richtigen für den eigenen Betrieb sind?

Sie sollten im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung mit den Beschäftigten sprechen, etwa mithilfe von Umfragen oder Workshops. Die Mitarbeitenden wissen meist selbst am besten, wo Probleme durch Gewalt bestehen und haben oft auch Ideen, was man dagegen tun könnte. Es ist kein einfaches Thema, aber ich sollte als Verantwortliche das Signal senden, dass ich darüber ins Gespräch kommen will.

Und was müssen Verantwortliche tun, wenn es zu einem Übergriff kam?

Ganz wichtig ist die soziale Unterstützung, etwa, dass Arbeitgebende oder andere Vorgesetzte sich erkundigen, wie es der betroffenen Person geht. Auf keinen Fall darf ein Übergriff heruntergespielt werden, nach dem Motto ‚das ist schon immer so gewesen‘ oder ‚ist doch nicht so schlimm‘. Sie sollten stattdessen immer fragen: ‚Wie können wir dich unterstützen?‘. Es ist sinnvoll, im Betrieb ein Betreuungskonzept vorzuhalten, etwa mit betrieblichen psychologischen Erstbetreuenden. Um gesundheitliche Folgen zu vermeiden, gibt es außerdem konkrete Maßnahmen seitens der Unfallversicherungsträger wie das Psychotherpeutenverfahren.

Wie können Sicherheitsbeauftragte beim Thema Gewalt unterstützen?

Zum einen haben sie durch den direkten Kontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, herauszufinden, wo es besonders schwierige Konstellationen gibt. Erfahren sie von einem Problem mit Gewalt, sollten sie das nach oben kommunizieren. Konkrete Fälle sollten sie aber nur weitertragen, wenn die betroffene Person einverstanden ist. Ebenso können Sicherheitsbeauftragte Betroffene ermutigen, sich selbst an ihre Führungskraft zu wenden und sie darin bestärken. Etwa, indem sie betonen: ‚Das, was dir passiert ist, ist nicht deine Schuld.‘