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Gewalt verhindern: Gemeinsam gegen Übergriffe
Frank Walther, Frank Dimmendaal und Claudia Brandkamp (von links) tauschen sich regelmäßig zur internen Sicherheit aus. © Ralph Sondermann

Arbeitssicherheit : Gewalt verhindern: Gemeinsam gegen Übergriffe

Viel zu oft erleben Beschäftigte Gewalt. Bei der Telekom stärken mehrere Teams das Sicherheitsgefühl – unter anderem ein Bedrohungsmanagement.

Es ist ein heißer Spätsommertag in Bonn. Im Meetingraum der Telekom-Zentrale ist es aber angenehm kühl. Und so kommt der Mitarbeiter nur sprichwörtlich ins Schwitzen, als ihn Dr. Claudia Brandkamp mit folgender Aufgabe konfrontiert: „Stell dir vor, ich bin deine Kollegin und möchte mit dir über einen Vorfall von sexueller Belästigung sprechen. Wie positionierst du die Stühle?“ Der Mitarbeiter schiebt die beiden Stühle ein wenig hin und her und platziert sie dann einander direkt gegenüber. „Viel zu nah“, urteilt Brandkamp. „Ich empfehle, bei so einem sensiblen Thema immer an einem Tisch und über Eck zu sitzen.“ Sonst bestehe die Gefahr, dass sich die Kollegin im Gespräch unwohl oder gar erneut sexuell belästigt fühle.

Rollenspiele sind ein fester Bestandteil der Workshops von Bedrohungsmanagerin Brandkamp, die sie regelmäßig für Beschäftigte der Telekom durchführt – und damit die Gewaltprävention vorantreibt. Das Bedrohungsmanagement wurde bereits im Jahr 2014 organisatorisch verankert. Das Konzept hatte eine Führungskraft in den USA kennengelernt. „Ziel ist es, einen angst- und gewaltfreien Arbeitsplatz zu schaffen, an dem sich alle sicher fühlen. Geht es den Menschen gut, geht es auch dem Unternehmen gut“, sagt Brandkamp.

Der Sicherheitsbeauftragte Frank Walther und die Bedrohungsmanagerin Dr. Claudia Brandkamp von der Telekom in Bonn. © Ralph Sondermann

Bedrohungsmanagement umfasst bei der Telekom drei Säulen

Um das Konzept auch bei der Telekom zu verankern, ließ sich die ehemalige Beraterin zur Bedrohungsmanagerin zertifizieren. Seit 2014 verantwortet sie den Bereich im Unternehmen. Die Arbeit umfasst drei Säulen: „Die erste ist die Kommunikation über Sicherheit. Spätestens nach der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, dass wir für vieles keine Sprache hatten. Etwa wenn die Kollegin zu wenig Abstand hält und mich das überfordert.“ Als zweite Säule nennt Brandkamp das Entwickeln zielgruppengerechter Kampagnen für bestimmte Beschäftigungsgruppen. „Beschäftigte in Callcentern etwa sensibilisieren wir dafür, dass die Wut mancher Kundinnen und Kunden nicht ihnen als Person gilt. Und wir sagen auch: Niemand muss sich beleidigen lassen, sondern darf auflegen.“ Beschäftigte im Außendienst werden auf mögliche belastende Situationen vorbereitet – etwa wenn sie bei Hausbesuchen mit Gewalt in Familien konfrontiert ­werden. Auch Grundlagen der Deeskalation werden vermittelt.

Die dritte Säule ist das Bedrohungsmanagement, das sich individuellen Einzelfällen widmet. „Vom Praktikanten bis zur Top-Managerin kann sich jede Person bei uns melden, die bedroht, beleidigt, gemobbt wurde oder etwas beobachtet hat“, so Brandkamp. Sie erinnert sich an eine Mitarbeiterin, die gestalkt wurde. „Damit der Täter ihr Auto nicht mehr ausfindig machen konnte, haben wir ihr ein anderes Büro angeboten und einen Garagenplatz bereitgestellt.“

Die Dialogkarten illustrieren Beispiele und mögliche Maßnahmen bei Gewalt am Arbeitsplatz. © M. Hüter

Klicktipp: Kulturdialoge Prävention

Miteinander sprechen – ein entscheidender Schritt, um die Sicherheit und Gesundheit im Betrieb voranzubringen. Doch wie beginnt man das Gespräch, insbesondere bei so sensiblen Themen wie Gewalt? Die Broschüre „Kulturdialoge: Prävention“ erleichtert den Einstieg: Mithilfe von Dialogkarten werden Probleme benannt und Maßnahmen festgelegt, um die Situation zu verbessern. Zum Thema Gewalt gibt es ein eigenes Dialogkarten-Set.

Gewaltprävention hat bei dem Telekommunikationsanbieter, der in Deutschland rund 80.000 Menschen beschäftigt, einen wichtigen Stellenwert. „Wir sind ein buntes Team mit Menschen aus über 50 Nationen. Zudem haben viele direkten Kontakt zu Kundinnen und Kunden. Da ist es normal, dass es mal Konflikte gibt“, so Brandkamp. „Wir wollen Hilfe anbieten, statt diese Konflikte zu ignorieren.“ Unterstützt werden Betroffene übrigens unabhängig davon, ob sie Gewalt im beruflichen oder im privaten Kontext erleiden.

Sicherheitsbeauftragte können vermitteln und bestärken

Auch Sicherheitsbeauftragte können die Gewaltprävention im Unternehmen unterstützen. „Durch ihren direkten Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen können sie oft besonders gut herausfinden, wo es kritische Situationen im Team gibt“, sagt Hannah Huxholl vom Referat Gesundheit im Betrieb, Nationale Präventionsstrategie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). „Sie können Betroffene zudem bestärken, dieses oft schambehaftete Thema an ihre Führungskraft zu kommunizieren.“

Der Sicherheitsbeauftragte Frank Walther ist schon seit zehn Jahren im Ehrenamt. © Ralph Sondermann

Großes Vertrauen genießt der Sicherheitsbeauftragte Frank Walther. Zehn Jahre hat er das Ehrenamt bei der Telekom bereits inne. „Ich kenne hier viele Leute und alle wissen, dass sie mich jederzeit ansprechen können.“ Durch seine hauptberufliche Tätigkeit bei der Telekom Security GmbH ist Walther für das Thema Gewalt besonders sensibilisiert. „Die innere Sicherheit und das Bedrohungsmanagement haben viele inhaltliche Überschneidungen. Oft bespreche ich einzelne Fälle persönlich mit Frau Dr. Brandkamp.“ Auch an internen Schulungen hat er schon teilgenommen.

Diese umfangreiche Expertise kommt ihm auch für seine Rolle als Sicherheitsbeauftragter zugute. „Ich weiß, wie ich auf eine Person zugehen muss, die sich auffällig verhält. Und ich weiß auch, an wen ich weitervermitteln kann. Die Nummer von Frau Dr. Brandkamp habe ich immer parat.“ Ein Basiswissen zum Thema Gewalt sollten alle Sicherheitsbeauftragte haben, findet Walther. Auch dann, wenn die hauptamtliche und die ehrenamtliche Tätigkeit nicht so nah beieinander liegen wie bei ihm.

Gut zu wissen: Deeskalation statt Eskalation

Was sollen Deeskalationstechniken bewirken?

Gezielte verbale Kommunikation und Körpersprache soll aggressive Menschen beruhigen und vermeiden, dass eine Situation in Gewalt eskaliert.

Grundlagen der Deeskalation:

  • Bahnt sich eine Konfliktsituation an,
    wird die Person laut oder verbal ausfallend:
  • Person gezielt ansprechen und Empathie vermitteln:
    „Ich verstehe, dass Sie …“ oder „Ich sehe, Sie haben ein Problem …“, ggf. Fragen zum Grund der Aggression stellen.
  • Klare, kurze Sätze formulieren, mit ruhiger Stimme sprechen, nicht (mit-)schreien.
  • Selbstbewusst verbal intervenieren, aber nicht provozieren: „Ich möchte, dass Sie jetzt …“
  • Selbstbewusste Körperhaltung, keine aggressive, provozierende oder hektische Gestik.
  • Immer mindestens eine Armlänge Abstand zur aggressiven Person einhalten.
  • Die eigene Sicherheit IMMER im Blick behalten.
    Reagiert die Person nicht auf verbale Ansprache  und wird zunehmend aggressiver:
  • Situation wenn möglich verlassen, Hilfe holen.
  • Kann ein körperlicher Übergriff nicht verhindert werden, sind Kenntnisse in Abwehr- oder Befreiungstechniken hilfreich.

Bei verbaler Gewalt bzw. sexueller Belästigung am Telefon/per Chat:

  • Ebenfalls zunächst empathische Ansprache mit ruhiger Stimme.
  • Fragen zum Problem stellen und Verständnis für den Ärger zeigen.
  • Wird die Person aber ausfällig, beleidigend oder droht, sich klar abgrenzen („Sie bedrohen/beleidigen mich, das ist eine Straftat“) und das Gespräch beenden.

Gewalt hat viele Gesichter – ebenso mögliche Folgen für Betroffene

Doch wann ist ein Konflikt, eine Beleidigung, eine Bedrohung eigentlich Gewalt? Die International Labour Organization (ILO) definiert Gewalt und Belästigung als „eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung (…) die darauf abzielen oder zur Folge haben (…) physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen“, so die Kurzfassung. „Zentral ist darüber hinaus das individuelle Empfinden und ob sich die betroffene Person bedroht fühlt“, betont DGUV-Expertin Huxholl.

Individuell sind auch die möglichen Folgen. „Unmittelbar nach einem Übergriff kann es zu einer akuten Belastungsreaktion kommen. Manche Menschen sind dann wie betäubt, haben Angst, zittern“, so Huxholl. „Langfristig ist eine Traumafolgestörung möglich. Auch das Risiko von Suchterkrankungen, Depressionen und Angststörungen ist erhöht, insbesondere bei sich wiederholendem Gewalterleben.“ Die meisten Menschen können solche Vorfälle aber gut verarbeiten und es entwickelt sich keine Störung, so die Expertin.

 

„Übergriffe auf keinen Fall herunterspielen“

Betriebe müssen ihre Beschäftigten vor Gewalt schützen. DGUV-Expertin Hannah ...

Sind Beschäftigte nach einem Übergriff im Arbeitskontext mehr als drei Tage arbeitsunfähig, handelt es sich um einen meldepflichtigen Arbeitsunfall. Für das Jahr 2023 verzeichnet die DGUV-Unfallstatistik insgesamt 14.451 Unfälle durch Gewalt, Angriff oder Bedrohung. Davon gehen 9.071 auf Übergriffe durch betriebsfremde Personen zurück, 3.624 auf betriebsinterne. Zu 1.756 Fällen wurden keine näheren Angaben gemacht. Die aktuelle DGUV-Kampagne #GewaltAngehen rückt das massive Gewaltproblem vieler Branchen in den Fokus und gibt Hilfestellung.

Mehr Sicherheit dank gebündelter Expertise und internem Austausch

Die Telekom setzt beim Thema Sicherheit auf ein eng verzahntes Netzwerk von Fachleuten. Dazu gehört auch Compliance-Manager Frank Dimmendaal. Seine Abteilung sorgt dafür, dass im Shop, im Außendienst  und im Callcenter alle rechtlichen und ethischen Standards eingehalten werden. „Sobald etwas strafrechtliche Relevanz hat, sind wir die ersten Ansprechpersonen“, so Jurist Dimmendaal. „Wir beraten Beschäftigte beispielsweise dazu, ob sie nach einem Übergriff Anzeige erstatten möchten. Oder ob ein Hausverbot verhängt wird.“ Erst kürzlich habe ein Kunde die Angestellten eines Shops aufs Übelste beleidigt. „Wenn die Mitarbeitenden sagen, sie haben Angst, wird Hausverbot erteilt. Opferschutz steht an erster Stelle.“

Compliance-Manager Frank Dimmendaal besucht regelmäßig die Filialen der Telekom. © Ralph Sondermann

Claudia Brandkamps Team ergänzt die Arbeit seiner Abteilung – das begrüßt Dimmendaal: „Ich bin jetzt seit 30 Jahren dabei und stelle fest, dass Fälle von Beleidigungen und Bedrohungen zugenommen haben. Die Hemmschwelle ist gesunken.“ Körperliche Übergriffe seien selten, kommen aber vor. Wichtig ist Dimmendaal der regel­mäßige Kontakt zu den Beschäftigten. Heute schaut er in der Filiale  vorbei, die direkt im Foyer der Telekom-Zentrale die Kundschaft empfängt. Der Verkäufer hat selbst zwar keine Gewaltvorfälle erlebt. Er erinnert sich aber an Kolleginnen anderer Shops, die Angst hatten, abends alleine abzuschließen. Infos wie diese sind wichtig für Dimmendaal, damit sein Team eingreifen und beispielsweise Alleinarbeit vermeiden kann.

Digitales Hinweisportal ermöglicht anonyme Meldungen von Gewalt

Viele Betroffene oder Zeuginnen und Zeugen von Gewalt möchten anonym bleiben. Um das zu gewährleisten, hat die Telekom bereits 2006 das Hinweisgeberportal „TellMe“ etabliert. Hier können Verstöße gemeldet werden, von Beschäftigten wie auch von externen Personen. „Diese Fälle laufen bei uns zusammen und werden weitergesteuert“, so Dimmendaal.

Impulse: Mögliche Maßnahmen zur Gewaltprävention

  • Es gilt das TOP-Prinzip: Technische vor organisatorischen vor personenbezogenen Maßnahmen, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung ermittelt wurden
  • Technisch: Je nach Branche zum Beispiel den Kassenbereich verglasen; Alarmsysteme installieren; für gute Beleuchtung sorgen; Fluchtmöglichkeiten
    schaffen
  • Organisatorisch: zum Beispiel Gewaltprävention in der Unternehmenskultur ­verankern, gemeinsame Erklärung verfassen; Rettungs- und Meldekette etablieren; nach einem Vorfall auf Worte Taten folgen lassen (etwa ­Hausverbote erteilen); Sicherheitsvorkehrungen erhöhen
  • Persönlich: In Meetings das Thema Gewalt regelmäßig aufgreifen; Beschäftigte ermutigen, über jedes Gewalterleben mit Vorgesetzten oder Sicherheitsbeauftragten zu sprechen; Schulungen zur Gewaltprävention anbieten, ggf. über externe Anbieter (etwa zu Deeskalationstechniken)
  • Hinweis: Bei der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse potenzielle Unterstützungsmöglichkeiten erfragen

Gewalt verhindern mit konkreten Maßnahmen

All diese Maßnahmen sollen vermitteln: Gewalt wird nicht akzeptiert. Diese klare Haltung ist laut DGUV-Expertin Huxholl ganz wichtig, um das Thema in der Unternehmenskultur zu verankern. „Zusätzlich ist eine betriebliche Grundsatzerklärung empfehlenswert, die sich gegen Gewalt positioniert.“ Unbedingt müssen die Risiken im Rahmen der ­Gefährdungsbeurteilung ermittelt und Maßnahmen abgeleitet werden. Zuerst sind technische und organisatorische Maßnahmen zu prüfen, dann persönliche.

Aktuell plant Claudia Brandkamp einen Workshop, der aktuelle gesellschaftliche Tendenzen fokussiert. Am Konzept arbeitet sie heute gemeinsam mit Frank Dimmendaal und Frank Walther. Deren Impulse seien wichtig für die zielgruppengerechte Gestaltung. Laut Brandkamp wird das Sicherheitsgefühl derzeit auf die Probe gestellt. Äußere Einflüsse wie der Anschlag in Solingen verschärften die Unsicherheit. „Dadurch werden manche Beschäftigte kritisch beäugt. Es ist wichtig, auf ihre Ängste einzugehen und klarzumachen: Wir stehen für Vielfalt und sind stolz darauf. Und wir stehen schützend hinter dir.“