Arbeitssicherheit : Nur mit Absturzsicherung hoch hinaus
Es war ein gewöhnlicher Auftrag, der Jan Magnus Glas vor drei Jahren zu einer ungewöhnlichen Idee verhalf. Glas war zu diesem Zeitpunkt technischer Objektleiter und Sicherheitsbeauftragter bei SPIE, einem europaweit tätigen Unternehmen für multitechnische Dienstleistungen in den Bereichen Energie und Kommunikation.
Wie schon so oft war er in einem Bürogebäude im Einsatz, um die Heizkühlventile und Luftfilteranlagen in der Decke zu warten. Ein Routinejob – wären da nicht die fest installierten Schreibtische gewesen. Leitern konnten Glas und sein Team nicht aufstellen. Einfach auf die Tische zu steigen, um von dort die Arbeit an der Decke auszuführen, hätte ein zu großes Unfallrisiko bedeutet. Was tun?
Der „Desk-Surfer“ als Lösung für sicheres Arbeiten
„Wir suchten nach einer Möglichkeit, um sicher über den Schreibtischen arbeiten zu können“, erinnert sich Glas. „Die Lösung war der Desk-Surfer.“ Gemeint ist eine kleine, fahrbare Wartungsbühne, die sicheres Arbeiten an Decken ermöglicht, ohne vorher umständlich Mobiliar verschieben oder gar auf Tische steigen zu müssen.
Einziger Haken: Diese Wartungsbühne musste von Glas und seinem Team erst noch erfunden werden.
„Der Dialog lohnt sich.“
Die Entwicklung der Arbeitsbühne zeigt, wie Sicherheitsbeauftragte Veränderungen im Unternehmen anstoßen können und wie gewinnbringend es sein kann, wenn sich alle im Unternehmen – von Sicherheitsbeauftragten bis hin zu Führungskräften – gemeinsam für mehr Arbeitssicherheit einsetzen.
„Viele schrecken davor zurück, einer Führungskraft von ihren Ideen zu berichten“, sagt Glas. „Aber der Dialog lohnt sich.“ Es müsse ja nicht immer die große Neuerung sein, betont er. „Oft genügen schon kleine Veränderungen, um Prozesse sicherer zu machen.“
Dabei käme es jedoch auch auf die Haltung der Vorgesetzten an: „Ich habe stets ein offenes Ohr bei meinen Führungskräften erfahren. Und das lohnt sich für beide Seiten: Denn die besten Vorschläge kommen häufig von denjenigen, die Probleme aus erster Hand kennen.“
Veränderungen im Betrieb anstoßen
Das Management war von der Idee der Sicherheitsbeauftragten begeistert und setzte sich dafür ein, sie umzusetzen. Das Unternehmen fand einen Hersteller, der das Produkt entwickelte und schließlich in Serie produzierte.
Später nahm sogar die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) das System in ihr Zuschussprogramm auf, sodass auch andere Betriebe auf Anfrage Zugang dazu bekommen können.
„Es ist eine Win-win-Situation“, findet Ahmed Boudouasel, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei SPIE. „Durch den Desk-Surfer steigern wir sowohl die Arbeitssicherheit der Kolleginnen und Kollegen als auch ihr Arbeitstempo. Denn mit diesem System lassen sich Tätigkeiten im Deckenbereich viel schneller erledigen als vorher.“
Den Einsatz von Leitern vermeiden
Die eigens entwickelte Arbeitsbühne ist nur ein Teil einer umfassenden Arbeitsschutzphilosophie, mit der SPIE die Zahl der Arbeitsunfälle auf null reduzieren möchte. Um dieses Ziel zu erreichen, verzichtet das Unternehmen bei Arbeiten in der Höhe auf Leitern, wo immer dies möglich ist.
Oliver Polanz, Leiter des Bereichs Arbeitsschutz, erklärt, warum: „Wir hatten in der Vergangenheit einige Stürze von Leitern, die mit schweren Verletzungen einhergingen. Der schlimmste Unfall war eine Beckenringfraktur. Der betroffene Kollege litt sehr unter den Folgen und fiel länger als ein Jahr aus. Wir haben dann beschlossen: Leitern gibt es ab jetzt bei uns nicht mehr.“
Einpersonen-Hubarbeitsbühnen einsetzen
Neben dem Desk-Surfer setzt SPIE seit diesem Vorfall auf weitere Alternativen, zum Beispiel Einpersonen-Hubarbeitsbühnen. Sie minimieren die Gefahr von Stürzen und gestalten Tätigkeiten in einer Höhe von bis zu vier Metern deutlich sicherer.
Gänzlich abschaffen ließ sich die Leiter dann aber doch nicht, „etwa in engen Aufzugsschächten, wo wir etwas montieren müssen“, nennt Polanz ein Beispiel. „In solchen Fällen gibt unsere Handlungsinformation zur Arbeit in der Höhe aber ganz klar vor, wie Mitarbeitende die Leiter zu sichern haben.“
Die richtige Absturzsicherung auswählen
Immer wieder herausfordernd ist die Arbeit auf Flachdächern. Regelmäßig sind Technikerinnen und Techniker hier im Einsatz, beispielsweise um Lüftungsanlagen oder Dachrinnen zu warten oder zu erneuern. Dabei arbeiten sie oft im absturzgefährdeten Bereich, also weniger als zwei Meter von der Kante entfernt.
Vor einem Absturz schützt hier am besten ein Kollektivschutz, also ein Geländer. Da dieses aber häufig fehlt, sind die Beschäftigten in Ausnahmefällen auf eine Persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz (PSAgA) angewiesen. Das Unternehmen setzt dann vor allem auf Rückhaltesysteme.
In selteneren Fällen kommen auch Auffangsysteme zum Einsatz, die bei einem Sturz über die Kante den Fall stoppen und die betroffene Person in einem Gurt auffangen. Bei beiden Systemen sichern sich die Beschäftigten mit der PSAgA an vorher fest am Gebäude installierten Anschlagpunkten.
Drei Arten der Absturzsicherung
Jedoch: Die Beschäftigten können sich nicht blind darauf verlassen, dass diese Vorrichtungen auch sicher sind. „Erst kürzlich waren die Anschlagpunkte, die sogenannten Sekuranten, in den Magerbeton gesetzt, sodass sie gar nicht richtig im Dach verankert waren.
Nach kurzem Ziehen hielten wir plötzlich drei in der Hand“, berichtet Oliver Polanz. Kein Einzelfall: „Auf einem anderen Dach waren die Anschlagpunkte mit falschen Schrauben befestigt, sodass sie bei einem Absturz das Gewicht der Person nicht gehalten hätten.“
Teamwork beim PSAgA-Einsatz
Aufgrund solcher Erfahrungen verlangt SPIE von den Auftraggebenden vor einem Einsatz eine bebilderte Einbaudokumentation der Anschlagpunkte. Liegt diese nicht vor oder erscheinen Sekuranten unsicher, verwendet das Unternehmen keine PSAgA.
„Für diese Fälle haben wir andere Möglichkeiten, zum Beispiel mobile Geländersysteme, die wir mitbringen und installieren. So können wir die Sicherheit unserer Mitarbeitenden auch dann gewährleisten, wenn wir ohne Rückhalte- oder Auffangsystem arbeiten“, erläutert Polanz.
Kann das Unternehmen trotzdem einmal nicht auf die Schutzausrüstung verzichten, ist richtige Vorbereitung essenziell. Dabei kommt es vor allem auf Teamwork an, wie Jan Magnus Glas weiß: „Die Kolleginnen und Kollegen geben prinzipiell aufeinander Acht und legen sich die Gurte gegenseitig an.“
Kommunikation auf Augenhöhe
Sicherheitsbeauftragte können sich einbringen, indem sie regelmäßig einen Blick auf die Ausrüstung ihrer Kolleginnen und Kollegen werfen. Entdecken sie etwa aufgescheuerte Nähte an Auffanggurten, sollten sie umgehend die zuständige Führungskraft darüber informieren.
„Wichtig ist, dass die Sicherheitsbeauftragten mit ihren Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe kommunizieren und ihnen direkt sagen, wenn sie sich gerade falsch verhalten, etwa wenn sie in einer Höhe von über einem Meter keinen Helm mit Kinnriemen tragen“, sagt Polanz. Denn auch das gehört zum Arbeitsschutz.
So motiviert SPIE für den Arbeitsschutz
- Alle vier Wochen wird in jedem Arbeitsbereich ein „Safety Champion“ benannt. Diese Person achtet einen Monat lang auf Sicherheitsmängel und fasst sie in einem kurzen Bericht zusammen. So erfahren Führungskräfte im Unternehmen, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht.
- Mit monatlich wechselnden „Life Saving Rules“ sensibilisiert das Unternehmen regelmäßig für Arbeitsschutzthemen. Die Informationen werden per E-Mail an alle verschickt und betreffen Themen wie Arbeitssicherheit auf Dächern und den korrekten Umgang mit PSAgA.
- Regelmäßig wird der Einsatz der PSAgA in der Jahresunterweisung theoretisch und praktisch geschult. Zusätzlich finden Schulungen zur Höhenrettung statt, bei denen die Beschäftigten zum Beispiel das Abseilen von Kolleginnen und Kollegen üben.
Weitere Informationen zum sicheren Arbeiten in der Höhe gibt es bei der DGUV.