
Arbeitssicherheit : Gestärkt durch Vielfalt am Arbeitsplatz
Ein Dienstzimmer im zweiten Stock des Berliner Immanuel Seniorenzentrums Schöneberg. Pflegefachkraft Nurhayat Günes steht mit dem Diversitätsbeauftragten Ralf Schäfer zusammen und reflektiert einen Workshop, den Schäfer vor zwei Tagen geleitet hat. „Als ich meiner Tochter davon erzählte, dass ich so einen Workshop besucht habe, sagte sie nur: ‚Wow, das hätte ich nie von dir gedacht‘“, sagt Günes und lacht. Was ihre Tochter in Staunen versetzt hat, waren die Themen: Was bedeutet „LSBTI“? Was ist „sexuelle Vielfalt“? Und welche Folgen hat Diskriminierung? „Ich hätte das anfangs nicht geglaubt, aber ich habe eine Menge mitgenommen“, so Günes.
Ralf Schäfer freut sich, wenn er solches Feedback bekommt. Damit ist der erste wichtige Schritt getan, um die Bedeutung von Vielfalt am Arbeitsplatz zu verstehen und Diskriminierung zu vermeiden – „zwei meiner Kernaufgaben“, sagt Schäfer, der seit 2023 „Beauftragter für Diversität und queere Lebensweisen“ der Immanuel Albertinen Diakonie ist. In seiner Rolle unterstützt er das Unternehmen bei einer zentralen Aufgabe: Arbeitgebende müssen ihre Beschäftigten davor schützen, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität, ihrer Herkunft, ihres Alters und anderer Vielfaltsmerkmale diskriminiert zu werden – laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz.
Im Video: Zu Besuch im Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg
Vielfalt am Arbeitsplatz ganzheitlich sehen
Dieser Schutz ist essenziell für eine gesunde und sichere Arbeit. Wenn Beschäftigte das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen, abgewertet oder benachteiligt zu werden, kann das die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Auch für sichere Arbeitsabläufe muss Vielfalt berücksichtigt werden. Ralf Schäfer nennt ein Beispiel: „Bei uns sind im gesamten Konzern 104 Nationalitäten vertreten. Deshalb stehe ich dem Personalmanagement beratend zur Seite bei Fragen wie: Sind unsere Websites, die Kommunikation, die Betriebsanweisungen für alle verständlich?“
10.772 Menschen
haben sich 2023 wegen Diskriminierungen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gewandt – ein Rekordhoch. Ein Drittel aller Fälle fand im Arbeitsleben statt.
Quelle: Jahresbericht 2023 der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Vielfalt wird in allen Einrichtungen der Immanuel Albertinen Diakonie mit ihren rund 8.000 Beschäftigten mitgedacht. Im Seniorenzentrum in Schöneberg mit 54 Mitarbeitenden gibt es einen besonderen Fokus: Hier wurde ein LSBTI-sensibles Pflegekonzept etabliert – also die sensible Pflege von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Auch kulturelle, religiöse und postmigrantische Vielfalt wird berücksichtigt. Im Jahr 2018 erhielt das Seniorenzentrum als erste Einrichtung das Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“. Initiiert wurde es vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, umgesetzt wird es von der Schwulenberatung Berlin. Seit 2020 wird das Programm vom Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. gefördert.
An die Zertifizierung ist ein konkreter Maßnahmenkatalog geknüpft. Neben Workshops gehören die Optimierung des Qualitätsmanagements sowie Veranstaltungsangebote dazu. Schon vor der Zertifizierung war das Seniorenzentrum in vielen Punkten gut aufgestellt – auch dank Ralf Schäfer, der seit 22 Jahren im Unternehmen ist. Bevor er Diversitätsbeauftragter wurde, hatte er die Heimleitung inne.
Kleines Glossar: Was bedeutet eigentlich…
- Diversität
Gleichbedeutend mit „Vielfalt“; es gibt sieben Dimensionen von Diversität: Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung, soziale Herkunft. - LSBTI
Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen; oft auch LSBTIQ – das Q steht für „queer“, ein Sammelbegriff für Menschen jenseits von Mann, Frau und heterosexuell. - Geschlechtliche Identität
Beschreibt die eigene, individuell empfundene Zugehörigkeit zu einem oder mehreren Geschlechtern; kann vom biologischen Geschlecht abweichen. - Binär/nicht-binär
„Binär“ bedeutet so viel wie „zweiteilig“; ein binäres Geschlechtssystem setzt voraus, dass es nur „männlich“ und „weiblich“ gibt; nicht-binäre Menschen identifizieren sich nicht oder nur teilweise mit diesen Kategorien; sie erleben sich etwa als männlich und weiblich oder fühlen sich gar keinem Geschlecht zugehörig. - Trans*/Transgeschlechtlich
Oberbegriff für Menschen, die sich nicht oder nur teilweise ihrem bei der Geburt festgelegten Geschlecht zugehörig fühlen; oft in der Schreibweise „trans*“; das Sternchen ist ein Platzhalter für verschiedene Endungen, zum Beispiel transsexuell oder transgeschlechtlich. - Inter*/Intergeschlechtlich
Oberbegriff für Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale aus medizinischer Sicht nicht eindeutig „männlich“ oder „weiblich“ sind; chromosomale oder anatomische Merkmale sind etwa uneindeutig.
Klicktipps: Weitere Infos und Impulse zu Vielfalt und Antidiskriminierung:
Jeder Mensch darf sich öffnen, muss es aber nicht
Diese Funktion hat im Jahr 2023 Nicole Oerder übernommen. Dass auch sie hinter dem Konzept steht, wird schnell deutlich. „Wir sind alle auf die eine oder andere Art vielfältig“, betont sie. „Hier wird jede Person so wertgeschätzt, wie sie ist.“ Diese Grundhaltung ist spürbar, wenn Nicole Oerder und Ralf Schäfer auf den insgesamt sechs Etagen des Seniorenzentrums unterwegs sind. Jeder Person, die sie treffen, schenken sie ein Lächeln oder ein nettes Wort. Sie kennen die Menschen und ihre Biografien gut, auch das fordert das Qualitätssiegel. Es werde aber niemals abgefragt, wer sich als „LSBTI“ identifiziere und wer nicht, betont Oerder: „Wer sich öffnen möchte, ist herzlich eingeladen. Aber wir arbeiten mit Menschen, nicht mit Sexualitäten oder Geschlechtsidentitäten.“

Wertschätzung leben – auch bei der Gestaltung der Einrichtung
Die Gestaltung der Wohnbereiche ist freundlich und modern. Es sind eher kleine, aber wichtige Details, die vermitteln: Hier wird Vielfalt gelebt. Hier und da taucht ein Regenbogen auf, ein Symbol der LSBTI-Community. Das Fahrstuhlschild bildet alle Geschlechter ab: eine männliche, eine weibliche und eine nicht-binäre Person – erkennbar am Sternchen. Im Erdgeschoss hängt das Zertifikat „Lebensort Vielfalt“, dazu auf jeder Etage das Leitbild, das verschriftlicht: Jeder Mensch wird mit Respekt behandelt und Diskriminierung nicht geduldet.
Einige Bewohnerinnen und Bewohner zeigen bereitwillig ihre Zimmer, auch Michael Keßner. Er lebt seit sieben Jahren hier und ist amtierender Heimbeirat. Unzählige selbst gemalte Bilder, DVDs und Bücher sammeln sich in seinem Zimmer. „Chaos“ nennt er es. Man kann es auch als Symbol für selbstbestimmtes Wohnen verstehen. Dass hier ganz unterschiedliche Menschen zusammenleben, findet er gut: „Ich habe von meiner Mutter gelernt: Jedem Tierchen sein Pläsierchen.“ Natürlich gäbe es auch mal Reibereien. „Aber generell ist der Umgang miteinander sehr respektvoll.“

Sicherheitsbeauftragte sollten für Vielfalt am Arbeitsplatz sensibilisiert sein
Auch Sicherheitsbeauftragte können dazu beitragen, dass der Betrieb ein sicherer Ort für alle ist. Etwa indem sie Kolleginnen und Kollegen auf diskriminierende Sprache hinweisen und in Gesprächen klar vermitteln, dass sie für Offenheit und Respekt stehen. Hören sie von Konflikten, können sie an Verantwortliche wie den Diversitätsbeauftragten verweisen oder sich dort Unterstützung holen. Ebenso können sie ihrem Team vermitteln, warum Maßnahmen zum Thema Vielfalt auf den Arbeitsschutz einzahlen.
Impulse für Sicherheitsbeauftragte
Gezielte Maßnahmen für Vielfalt fördern eine gesunde und sichere Arbeit. Folgende Argumente können Sicherheitsbeauftragte anbringen, wenn das Thema kritisiert oder vernachlässigt wird:
- Grundsätzlich gilt: Jedes mehrköpfige Team ist auf die eine oder andere Art divers.
- Vielfältige Teams sorgen für verschiedene Perspektiven und Erfahrungen – das ermöglicht einen 360-Grad-Blick, auch beim Arbeitsschutz.
- Durch Wertschätzung und Aufklärung zu Diversität sinkt die Gefahr von Diskriminierung – und somit das Risiko von Konflikten und erhöhter psychischer Belastung.
- Wenn alle Beschäftigten so akzeptiert werden, wie sie sind, muss sich niemand verstellen oder verstecken – das spart (mentale) Ressourcen und erhöht die Zufriedenheit.
- Durch Offenheit können Risiken erkannt und vermieden werden.
Beispiel: Ein Beschäftigter vertraut seiner Vorgesetzten an, dass er eine Lese/Rechtschreibschwäche hat; dann können etwa Betriebsanweisungen in Leichter Sprache erstellt werden. - Ein wertschätzendes Arbeitsumfeld bindet Mitarbeitende ans Unternehmen und stärkt die Außenwirkung. Das kann Personalmangel vorbeugen.
Klicktipp: Weitere Impulse liefert die Charta der Vielfalt
Vielfaltsfaktoren sollten immer Teil der Gefährdungsbeurteilung sein
Das Engagement des Seniorenzentrums wird auch bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) geschätzt. „Hier wurden tolle Arbeitsbedingungen etabliert“, sagt Aufsichtsperson Dr. Kathleen Hobritz. Gerade die Pflegebranche sei von Vielfalt geprägt, das müssten Arbeitgebende berücksichtigen. Relevant sei das Thema aber für alle Betriebe: „Diskriminierung vermeiden, auf Sprachbarrieren reagieren, ein gewaltfreies Arbeitsumfeld schaffen – das sollten alle Arbeitgebenden in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen.“
Im Seniorenzentrum in Schöneberg hat eine Beschäftigtenbefragung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung wichtige Erkenntnisse geliefert – auch zur Wirksamkeit der Maßnahmen und des Qualitätssiegels. „Wir haben sehr positives Feedback bekommen“, so Ralf Schäfer. „Bei der Frage, womit sich die Beschäftigten am ehesten identifizieren, wurde das Qualitätssiegel an erster Stelle genannt. Es erhöht die Arbeitszufriedenheit und den Zusammenhalt.“ Pflegerin Nurhayat Günes kann diesen Eindruck bestätigen. Sie habe sich schneller eingelebt als in anderen Einrichtungen. Auch der respektvolle Umgang mit den Bewohnenden gebe ihr ein gutes Gefühl im Arbeitsalltag. „Ich arbeite gelassener, motivierter.“
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DGUV-Experte Tobias Belz erläutert im Interview wie Vielfalt und Arbeitsschutz zusammenhängen und wo Betriebe Informationen bekommen.

Gelassen ist die Stimmung auch zur Mittagszeit. Heute kommen nur einzelne Bewohnende in die Speiseräume, viele sind erkältet und bleiben im Bett. „Aber auch wenn alle gesund sind, dürfen sie selbst entscheiden, wo sie essen möchten“, sagt Heimleiterin Oerder. „Wir gehen generell sehr stark auf individuelle Bedürfnisse ein.“ Das zahle ebenfalls auf den Arbeitsschutz ein, sagt Aufsichtsperson Kathleen Hobritz: „Die Bewohnenden werden nicht bevormundet.“ Das habe auch die Zahl der Übergriffe gegenüber den Mitarbeitenden verringert.
Offener Umgang und klare Maßnahmen bei Gewaltvorfällen
Ein wichtiger Aspekt, denn Gewalt gegen Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitssektor ist ein erhebliches Problem. Hier zeigt das Seniorenzentrum ebenfalls Haltung. „Wir haben einen Verhaltenskodex, der für Beschäftigte wie Bewohnende gilt“, sagt Ralf Schäfer. „Fehlt bei der Täterin oder dem Täter die Einsicht oder wiederholen sich Gewaltvorfälle, kann in letzter Konsequenz eine Kündigung ausgesprochen werden.“
Grundsätzlich wird im Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg aber zunächst der Austausch gesucht. „Wir pflegen eine positive Fehlerkultur“, so Nicole Oerder. „Wenn etwa ein Fall von Diskriminierung gemeldet wird, führen wir zunächst ein Gespräch. Warum kam es dazu, welches Wissen fehlt? Dann bieten wir Unterstützung an, damit es nicht mehr dazu kommt.“

Beschäftigte beim Thema Vielfalt da abholen, wo sie stehen
Offener Austausch sei wichtig, wenn ein Betrieb sich für Vielfalt engagieren wolle, findet Aufsichtsperson Hobritz. „Verantwortliche sollten erst mal herausfinden, wie die Stimmung zum Thema ist. Gibt es Vorbehalte, fehlt Basiswissen? Dann ist Aufklärung ein guter erster Schritt.“ Oft fangen Vorbehalte schon bei den vielen, teilweise englischen Fachbegriffen an. Diese müssten erklärt und gegebenenfalls deutsche Begriffe etabliert werden. „Die Beschäftigten sollten da abgeholt werden, wo sie stehen“, so Hobritz. Ralf Schäfer bestätigt, dass Sprachgebrauch oft ein schwieriges Thema ist: „Manche empfinden es so, als wolle ich ihnen die Sprache verbieten. Dann gilt es, gemeinsam zu reflektieren, warum ein Begriff problematisch ist.“
Wichtig ist auch, die eigene Haltung frühzeitig und transparent zu kommunizieren. Nicole Oerder erklärt bereits in Vorstellungsgesprächen, wofür die Einrichtung steht: „Viele Menschen bewerben sich gezielt bei uns. Etwa weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben und einen sicheren Ort finden wollen.“ Unter Fachkräftemangel, sagt Oerder, leidet das Seniorenzentrum jedenfalls nicht.